Hildegardweg 5. Etappe: Freunde und Fische (Teil 5/9)
„Wer oder was stärkt mir eigentlich in meinem Leben den Rücken?“, ist eine der heutigen Pilgerfragen auf dem Hildegardweg. Der Denkanstoß steht im Zusammenhang mit Hildegards Vision zu Firmung und Konfirmation. Kirchliche Rituale, mit denen etwas gestärkt und gefestigt wird. Tafel Nummer 30. Platziert in einer herrlichen kleinen Meditationsecke mitten am Weg.
Die Antwort in meinem Kopf kommt schnell und spontan: Was mich stärkt, sind Freundschaften und das Vertrauen in eine wohlwollende, universelle Kraft. Die vergangenen Wochen während Corona haben das gezeigt. Und auch die Tage auf dem Pilgerweg machen das deutlich für mich.
Die Unterstützung und Begleitung meiner Freunde aus nah und fern macht mir das Herzilein ganz warm. Selbst wenn ich alleine gehe, habe ich nicht den Eindruck wirklich alleine zu sein. Der Zuspruch und die Nachfragen tragen mich, vor allem an den seltsamen Tagen und in den anspruchsvollen Momenten.
Montagmorgen im mobilen Pilgerbüro
Montagmorgen war so ein Moment. Der Vortag am Disibodenberg war intensiv. Der Abend nicht mehr ganz so produktiv. Es gibt noch jede Menge zu tun im mobilen Büro der digitalen Nomadin.
6 Uhr Bilder bearbeiten, Blogartikel fertig schreiben, 8:30 Uhr Frühstück und bezahlen, Blog nochmal durchlesen und redigieren, auf Social Media die gute Nachricht verkünden, Email an die Allgemeine Zeitung für’s Fototagebuch auf Facebook, packen, losstolpern. Es ist schon 10:30 Uhr.
15,5 Kilometer zählt die offizielle fünfte Etappe vom Disibodenberg nach Schloßböckelheim. Für mich plus die jeweiligen Wege von und zur Unterkunft. Tatsächliche Dauer unbekannt.
Magischer Disibodenberg
So skandalös spät zu starten war nicht ganz der Plan. Aber pilgern heißt ja auch, Vertrauen zu entwickeln, dass alles genau so kommt, wie es kommen muss. Schon der Volksmund weiß das. Und Pilgern ist ein prima Übungsraum, um Erkenntnis und Haltung dazu spielerisch zu vertiefen.
Und so gönne ich mir trotz der fortgeschrittenen Uhrzeit und des Verdachts, dass heute wieder mehr als 20 Kilometer anstehen, einen zweiten Besuch auf dem Disibodenberg.
Gut 2 Kilometer sind es von meiner Unterkunft zur Klosterruine. Sie liegt ohnehin auf dem Weg, warum also nicht noch einmal die magischen Plätze mit mehr Ruhe besuchen? Der Plan geht auch um 11:00 Uhr noch auf. Außer mir sind nur zwei andere Besucher auf dem weitläufigen Gelände.
Das Wetter war den ganzen Morgen über wechselhaft. Sonne, Wolken, Regen, Wolken, Sonne. Jetzt geht gerade wieder einmal ein leichter Schauer herunter.
In der verlassenen Stille zieht mich der Disibodenberg noch einmal ganz anders in seinen Bann. Ich kann mich gar nicht lösen und breche erst nach eineinhalb Stunden bei strahlendem Sonnenschein langsam wieder auf.
Tag der Rosen
Vom Berg herunter geht es zunächst am beschaulichen Glan entlang nach Odernheim – neben Staudernheim einer von zwei Orten, in der ein Mensch ohne Auto gerne übernachtet, um Hildes ehemaliges Heim zu erleben. (Mit Auto empfiehlt sich auf jeden Fall Bad Sobernheim. Da gibt es mehr Auswahl beim Essen. ;-))
Odernheim liegt ganz reizend am Glan und läutet den Tag der Rosen ein: Selbst an der Hauptstraße verströmen die Edelgewächse ihren lieblichen Duft. Ein Trend, der sich später in Duchroth fortsetzen wird.
Aus dem Ort heraus geht es gleich kräftig bergauf. Nach halbem Aufstieg wird die Wandersfrau mit einem einzigartigen Ausblick auf den Disibodenberg belohnt. Erkennbar ist das Gelände von dieser Seite aus an der weißen Hildegardiskapelle.
Was stärkt mich im Leben?
Kurz danach kommt die kleine, geschützte Meditationsecke mit der Frage nach der Stärkung im Leben. Sie lässt mich auch darüber sinnieren, ob ich lieber alleine unterwegs bin. Es ist erst der zweite Tag auf meiner Pilgerreise ohne Begleitung.
Mit Freunden zu pilgern ist eine wunderbare Sache: Es macht Spaß, die Fragen zu diskutieren, sich auszutauschen, sich dabei auch besser kennenzulernen. Wer weiß schon von seinen Freunden, was für sie die Begriffe Seele und Geist bedeuten oder was sie über das Weltall denken? Zusammen hat man viel mehr Aspekte im Blick. Das erweitert den Horizont. Plus geteiltes Glück ist wirklich doppeltes Glück.
Aber alleine unterwegs zu sein, hat auch seinen Reiz. Der Sinn für die Details am Wegesrand steigt immens. Ich wende mich der Umgebung mit mehr Aufmerksamkeit zu und stehe mehr für die Begegnungen mit den Menschen am Wegesrand zur Verfügung. Gleichzeitig kann ich tiefer in meine eigene Betrachtung sinken, mehr bei mir sein.
Eigentlich ist mein aktueller Pilgerstil perfekt für mich: von allem etwas. So mag ich es gerne!
Asphalttreten in spektakulärem Wolkenspiel
Schattenlos geht es weiter auf geteerten Wirtschaftswegen. Ich komme ein wenig vom rechten Weg ab und fange an, am weicheren Wegesrand zu laufen. Asphalt-Treten ist wirklich anstrengend, wenn es über viele Kilometer geht. Und das scheint auch auf dieser Etappe wieder der Fall zu sein.
Die andere Seite der Münze: Auf dem Höhenzug Richtung Duchroth bieten die Wolken ein solches Spektakel, dass ich gefühlt ohnehin alle paar Meter für Fotos stehenbleiben muss. Was für eine Weite! Weizen- und Rapsfelder stellen die Kulisse für das dramatische Schauspiel. Der Himmel scheint schier unendlich.
Nun schwenkt der Pilgerpfad ein auf einfache Feldwege und ich erfreue mich an den Grasbüscheln in der Mitte. Hin und wieder muss ich anhalten zum Kirschen kosten. Die Bäume am Wegesrand hängen voll mit tiefroten, süßen Früchten. Ich nehme immer drei. Wegen des Glücks. Und wegen der christlichen Dreifaltigkeit und des dreifachen Juwels im Buddhismus (Buddha, Dhamma, Sangha). Lecker!
Pilgertreff und Bauerngärten
Eine Schatten spendende Allee geleitet die Wanderer nach rund 5 Kilometern runter ins Dorf. Und die Duchrother haben sich etwas Besonderes einfallen lassen: Weil gleich drei Pilgerwege hier langkommen, gibt es neben einer Bank kurz vor dem Ortseingang eine Infotafel mit sachdienlichen Hinweisen für Verpflegung, Stempelstellen und einen Pilgertreff.
Duchroth selbst ist lieblich. Rosen in Hülle und Fülle am Straßenrand und eine winzige ringförmige Gasse rund um den mittelalterlichen Ortskern. Eine kleine Entdeckungstour gefällig? Es gibt hübsche Bauerngärten am Rand des Dorfes und ein kleines Hildegard-Gärtchen an einem größeren Brunnen mit Erläuterungen zu ihrer Kräuterwissenschaft.
Als Rastplatz bietet sich das nette Dörfchen in jedem Fall an. Wenn man denn rasten möchte, und wenn nicht gerade Montag ist – so wie heute – und das Pilgerlädchen geschlossen hat.
Nach den Rispen die Reben
Nach den Rispen und Ähren kommen nun die Reben. Der Weg führt weiter durch das nächste Anbaugebiet des Nahe-Weines. Auch hier wieder schöne Blickachsen und im strahlenden Sonnenschein fantastische Farben.
Ein Rätsel wäre dann noch zu lösen beim nächsten Zusammentreffen mit einem Ortskenner: Sind die Metallfische Vogelscheuchen oder Kunst im Weinberg? Ich kann es mir nicht wirklich erklären, gehe aber ohne Zögern einige extra Höhenmeter für das außergewöhnliche Fotomotiv.
Hildegard-Pilgeroase
Ein Mini-Wäldchen bringt Abkühlung für ein paar Minuten. Doch die wirkliche Erfrischung kommt am Rastplatz bei der evangelischen Kirche in Oberhausen. Hier entsteht eine regelrechte Hildegard-Pilgeroase.
Die Kirche ist zwar wegen Bauarbeiten nicht zugänglich, aber im Garten gibt es eine liebevolle, kleine Kräuterpflanzung, mehrere Hildegard-Statuen, ein Pilgerbuch zum Eintragen und sogar ein richtiger Hildegard-Stempel. Der erste der gesamten Tour!
Dafür stelle ich gerne für eine halbe Stunde den Rucksack ab und begegne der Frage „Was verstehe ich als das Opfer Christi?“. Schnell sehe ich ein, dass ich diese Auseinandersetzung verschieben muss. Wie ich den Kern christlicher Theologie mit meiner mittlerweile stark asiatisch geprägten Weltanschauung versöhne, ist definitiv „work in progress“.
Was ich jetzt schon weiß ist: Hildegard von Bingen mit ihrer mystischen Weltschau bietet sich hierfür als eine wunderbare Brücke an.
13+12 = Schallmauer durchbrochen
Zurück ins Profane: Es ist 16 Uhr. Nach gut vier Stunden Fußweg seit dem Disibodenberg ist es Zeit, Bilanz zu ziehen. Ich habe jetzt 13 Kilometer auf dem Tacho (9 offizielle). Das Grande Finale des Tages im 6,5 Kilometer entfernten Schloßböckelheim ist für mich wieder nur ein Zwischenstopp. Ich gehe weiter bis Waldböckelheim.
Leider bekomme ich kein klares Bild von der exakten Entfernung zu meiner Unterkunft. MAPS.ME erzählt mir was von nochmal 6 Kilometern. Das darf auf keinen Fall wahr sein! Jetzt noch mehr als 12, da widerspricht mein Ilio-Sakralgelenk.
Ich grübele über dem letzten belegten Brot vom Frühstückstisch und schiebe ein paar Rippen hochprozentiger Schoki hinterher. Mir fehlen Informationen. Ich brauche einen Telefonjoker. Und mein Gastgeber in Waldböckelheim war schon in der Vorbereitungsphase ziemlich gut erreichbar.
Weniger Weinberge, mehr Aussicht und ein Taxi
Ich kriege ihn gleich an den Hörer und wir diskutieren die verschiedenen Möglichkeiten. Die Lösung: Statt einer 6,5 Kilometer-Schleife durch die Weinberge bis zum offiziellen Etappenende Schloßböckelheim lieber eine direktere Variante von 3,5 Kilometer dorthin – auch durch Weinberge.
Ich nehme an, man verpasst dabei nicht allzuviel. Und Hildegard wird es mir sicher nachsehen. Ich mag den Wein ja trotzdem noch.
Bonus: Im Hauptort von Waldböckelheim, wo ich zu Abend essen sollte, weil es in der außerhalb gelegenen Unterkunft nichts gibt, kann mein Gastgeber mich abholen. Yippieh! Luxus pur.
Also weiter geht’s. Noch gute 8 Kilometer, das klingt schaffbar.
Die Abkürzung direkt an der Nahe ist anfangs auch noch schattig und die Hildegardtafel am Fluss greift das Thema Fische ganz hübsch auf.
Beschirmter Derwisch-Tanz
Zurück in den Weinbergen am Südhang wird es mit der Sonne allerdings zunehmend heftig. Ich gehe bei Sonne ja am liebsten mit Schirm. Keine Hitzestau am Schädel, leichtes Lüftchen auf der Stirn, und der großflächige Schatten schützt auch Nacken und Dekolleté.
Wenn es allerdings windet wie jetzt gerade wird aus dem beschirmten Flanieren eher eine Art Derwischtanz mit Twisteinlage. Bei Kilometer 16 gebe ich auf und greife zum dünnen Halstuch Marke Hilde-Schleier. Ist zwar hellblau und mit Ganesha drauf, aber ich denke, ich bleibe hier grundsätzlich im Thema.
Den Schirm wegzupacken stellt sich als gute Idee heraus, denn die körperliche Herausforderung des Tages steht noch bevor: Eine wunderbare Direttissima durch die sonnigen Weinberge Richtung Burgruine Böckelheim, dann steil runter nach Schloßböckelheim und noch einmal hoch auf den nächsten Berg, jetzt schon über Waldböckelheim.
Die Wege durch die Weinberge auf dieser Seite gehören zu den schönsten des Tages – breite Graspfade im Halbschatten. Das Abendlicht ist mild, die Grillen zirpen, der Wind frischt auf. Ein Gedicht.
Ein Höhepunkt in jeder Hinsicht
„Wenn Sie noch ein bisschen Power haben, dann gehen Sie auf jeden Fall zum Heimbergturm“, hat mein ortskundiger Telefonjoker gesagt. Und ich bin froh, dass er mir den Aussichtspunkt hinter Schloßböckelheim so schmackhaft gemacht hat!
Im Vorbeigehen hätte ich den Turm, rund 700 Meter abseits der Hauptroute (x2!), womöglich verschmäht. Bei Kilometer 19 fängt man an, über solche Dinge nachzudenken!
144 Stufen sind es dann noch bis zur Spitze des Heimbergturms und der Wind bläst ganz ordentlich auf der höchsten Plattform. Schnell die Fleece-Jacke raus und alle losen Gegenstände tornado-sicher verstauen.
Die Belohnung für die Mühe folgt auf dem Fuß: ein fulminantes 360 Grad Panorama ins gesamte Hildegardland.
Im Südwesten der Disibodenberg, der Beginn von Hildegards Klosterleben. Sponheim, der Geburtsort ihrer ersten Äbtissin, im Norden. Und dann tatsächlich am Horizont erkennbar Rhein, Rheingau und Rüdesheim mit der heutigen Hildegardabtei im fernen Nordosten.
Im Abendlicht in jeder Hinsicht ein Höhepunkt! Was für ein Abschluss eines Tages, der an der Klosterruine auf dem Disibodenberg begann.
Alles nur Kinderteller
Der Abstieg aus den Höhen führt mich in eines der gutbürgerlichen Restaurants in Waldböckelheim, das genau ein gehaltvolles Gericht für die Vegetarierin bietet: Kinderteller. Spaghetti mit Tomatensauce. Der Koch ist so nett und schneidet auf Anfrage noch zwei Pilze und etwas Tomate mit rein und macht eine ordentliche Pilgerportion daraus.
Gesättigt und heiter geht ein weiterer Tag auf dem Hildegardweg dem Ende entgegen. Das Gästehaus liegt traumhaft ruhig mit Blick auf den Heimbergturm. Hühner gackern, Pferde wiehern. In der milden Sommerluft genieße ich den Austausch mit Freunden und Familie – dieses Mal ganz landläufig via Telefon.
Weisheit des Tages: In Verbindung bleiben ist eines der großen Geheimnisse zum Glück im Leben – mit anderen Menschen, mit der Natur und mit mir selbst. Und auch mit etwas viel Universellerem, etwas Göttlichen, wie auch immer definiert. Gut, dass Hildegard mitten im Naheland daran erinnert.
Bilanz:
- 15,5 Kilometer offiziell (plus 8 für die liebe Simone)
- Laut Pilgerbuch das “Herzstück des Weges”
- Wer den Himmel liebt, muss auch Asphalt mögen
- Für Liebhaber einfacher Wege durch die unendlichen Weiten und Weinberge, großartiges Plus: Flusslandschaften an Glan und Nahe
- Einkehrdorf Duchroth, Pilgerrast in Oberhausen
Persönliche Errungenschaften:
- Hitzestau unterm Shirt
- Dankbarkeit im Herzen
- Bremsenstiche von vor vier Tagen fangen jetzt richtig an zu jucken
(Kann mir das einer erklären? Die Mosquitos in den Tropen machen das besser: zack, stechen, jucken, bei guter Führung in 60 Minuten fertig!) - Struwwelpeter Testreihe „Fliegender Robert“ zwischen Weizen, Raps und Reben erfolglos abgebrochen
- Es läuft.
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