Hildegardweg 4. Etappe: Im Herz der Pilgerreise (Teil 4/9)
Der vierte Tag auf dem Hildegardweg ist ein großer Tag! Er führt den Pilger ins Herz der Tour, zur Klosterruine Disibodenberg. Hier hat Hildegard von Bingen fast 40 Jahre ihres Lebens gelebt und gewirkt. Für viele hat der Berg eine ganz eigene kraftvolle Schwingung.
Doch die emsige Pilgersfrau ist heute müde und auf dem Enthusiasmus-Barometer etwas niedriger eingepegelt als sonst.
Ein leichter Spaziergang
Die offizielle Etappe von Monzingen zum Disibodenberg zählt 13,6 Kilometer. Da ich bereits nach dem üppigen Pizza-Dinner am Vorabend 3 davon absolviert hatte, wird es heute tatsächlich nur ein besserer Spaziergang.
Und das ist auch gut so, denn ich bin um 13 Uhr mit Dr. Annette Esser, der Initiatorin des Hildegardweges und Macherin hinter Wegekonzept, Tafeln und Pilgerbuch, verabredet!
Der Weg über Bad Sobernheim geht auf der ganzen Strecke ausschließlich über asphaltierte Wirtschaftswege. Nicht ganz nach meinem Geschmack. Und meine Knie mögen es auch nicht.
Grauer Himmel, frischer Wind
Das offene Feld erscheint mir heute geradezu langweilig. Es ist stark bewölkt, der Himmel grau verhangen, der Wind recht stark.
Sagen wir, wie es ist: Ich bin einfach erschöpft! Nicht so sehr körperlich. Der Muskelkater hat sich auf wundersame Weise verflüchtigt.
Aber ich stelle fest, dass das ambitionierte Doppelprojekt Pilgern und täglich bloggen nicht ganz anspruchslos ist. Und plötzlich laufe ich um anzukommen.
Der Weg war doch eigentlich das Ziel?
Auf dem Asphalt zieht das Tempo mächtig an. Ich will anscheinend einfach nur schnell fertig sein mit dem Weg, den Disibodenberg erreichen.
Ein paar Pferde geleiten mich aus dem Ort hinaus. Ganz ruhig und gleichmütig erleben sie ihren Tag. Und ich merke, wie Bewegung und Natur langsam ihre Wirkung entfalten.
Freundlich biegen sich mir die Reben, Ähren und Rispen am Wegesrand entgegen. Sommerblumen und Rosen locken mich, nach neuen Winkeln zu suchen, neue Perspektiven zu erforschen. Der Himmel ist bewegt. Na also, geht doch! Ankommen auf dem Pilgerweg!
Ausflug in die große Stadt
Auf den letzten Metern vor Bad Sobernheim geht es parallel zur B41. Mit dem Eintritt in die Stadt wird es regelrecht urban. Ein Gewerbegebiet und mehrere große Supermärkte lässt der Weg jedoch rechts liegen. (Selbstversorgung wäre hier jedoch gut möglich!)
Vorbei am Pförtnerhäuschen geht es stattdessen direkt in das Herz der Stadt. Viele Bänke stehen vor den Türen, oft mit Blumentöpfen garniert und Dekomaterial umrankt. Und sie werden häufig benutzt. Gesellig und gemütlich sieht das aus.
Die Menschen grüßen freundlich. Ein Mann hält an mit seinem Auto, um mich meine Fotoaufnahme vollenden zu lassen. Sehr galant. Kinder winken mir zu.
Heilkunde der Hildegard
In und um Bad Sobernheim hagelt es Info- und Meditationstafeln. Ein Schwerpunkt des heutigen Tages ist die Natur- und Heilkunde der Hildegard von Bingen. „Für viele Menschen der Hauptgrund, sich mit Hildegard zu beschäftigen“, weiß das Pilgerbuch.
In ihrem Buch „Physica“ hat Hildegard über die heilsame oder auch schädliche Wirkung von 217 Pflanzen und Nahrungsmitteln geschrieben. Und ich erinnere mich wieder, dass ich einst bei einer Heilpraktikerin Tees auf Basis der Schriften Hildegards empfohlen bekam.
Warum werden wir krank?
In einem zweiten Teil des Werkes mit dem Titel „Ursprung und Behandlung der Krankheiten“ identifiziert die Nonne aus dem 12. Jahrhundert folgende Top-Ursachen:
- Ungesunde Ernährung
- Schlechter Schlaf
- Krank machender Lebensrhythmus
- Falscher Umgang mit Emotionen
- Verdrängen des eigenen Lebensauftrages
Könnte so auch heute in einem modernen Lifestyle-Magazin stehen. Mit der Ergänzung, dass Hildegard sicher ist, dass die Beziehung zum Schöpfergott wesentlich zu Gesundheit und Heilung beiträgt.
Seither ist die Hildegard-Heilkunde mit ihren über 2.000 Rezepturen Teil der Klostermedizin und der Traditionell Europäischen Medizin (TEM), heißt es auf einer der Tafeln.
Tag der offenen Kirchen
Der Spaziergang durch Bad Sobernheim führt an der Synagoge und einer Reihe von Kirchen vorbei. Letztere am heutigen Sonntagmorgen für Gottesdienste geöffnet.
Ich platze nicht hinein, fotografiere nur die Rosen am Eingang und warte lieber auf die besinnliche Stimmung in der Klosterruine.
Vor einer weiteren Kirche treffe ich einen Posaunenchor in Wartestellung. „Wir haben die Eröffnung für einen ‚Wandelgottesdienst‘ geblasen“, erklären sie mir.
Die Gottesdienstbesucher seien gerade in der Stadt unterwegs und pausierten an verschiedenen Stellen für Besinnung und Gesang. Auf diese Weise sei nun endlich trotz Corona-Vorschriften das gemeinsame Singen wieder möglich, schwärmt einer der Musiker.
Sonntagsspaß für jung und alt
Durch einen Park kürze ich rund 200 Meter des Weges ab. Es sah einfach netter aus wie die originäre Wegführung und bringt mich vorbei an einer Bank für Menschenzwerge. Riesenspaß!
Nächste Station ist der bekannte Sobernheimer Barfußpfad. Da ist heute viel los. Familien waten mit ihren Kindern fast knietief durch den Schlamm, spüren Holzzspäne, Gras und Wasser unter den bloßen Füßen. Auch einige Wanderer drehen hier eine Ehrenrunde.
Von hier ist es nicht mehr weit zum Disibodenberg – der spirituellen und inhaltlichen Mitte des Hildegardweges. Noch eine letzte Schleife durch Staudernheim, das am Fuß des Berges liegt, vorbei an einer Tafel, die nach meiner Beziehung zu Engeln fragt. Ich denke ein ander Mal darüber nach und gehe weiter zu meiner Verabredung mit Annette Esser, der Hildegardweg-Initiatorin. Denke ich…
Es kommt oft anders als man denkt
Doch wir starten mit einem Missverständnis. Als Treffpunkt war die Disibodenberger Kapelle/Restaurant „Denkmalz“ vereinbart. Erst kurz vor dem Date begreife ich, dass das Restaurant mitnichten auf dem Disibodenberg liegt, sondern in Bad Sobernheim.
Die Dame am Kassenhäuschen der Klosterruine erklärt es mir. Die Disibodenberger Kapelle gehörte zum größten Wirtschaftshof des Klosters, und der war eben „downtown“. Schade, da war ich vor 6 Kilometern schon vorbeigelaufen.
Die Disibodenberger Kapelle
Die Kapelle aus dem 15. Jahrhundert ist im Gegensatz zum Kloster selbst bis heute sehr gut erhalten. Schon früh wurde das gotische Bauwerk für profane Zwecke genutzt. Ein Umstand, der ihm das Schicksal vieler anderer historischen Denkmäler (etwa des Klosters selbst) erspart hat, nämlich zum Steinbruch für die Bürger ihrer Stadt zu werden. Heute beherbergt sie die Kapellenbrauerei DenkmalZ.
6 Kilometer zurückzulaufen, erscheint mit unattraktiv bis unmöglich und dankbarerweise erklärt sich Frau Esser bereit, auf den Disibodenberg zu kommen. Und so gelange ich in den Genuss einer exklusiven Führung durch die ausgewiesene Fachfrau des Weges.
Wir starten in dem kleinen Museum am Haupteingang, das die Geschichte des Disibodenbergs von keltischer Zeit an mit einer Reihe von Exponaten und Zeittafeln knapp umreißt. (Das Museum hat nur am Wochenende und an Feiertagen geöffnet. Bei Interesse die Tour entsprechend planen.)
Annäherung auf dem Meditationsweg
Danach schlendern wir den Meditationsweg entlang, während Annette Esser mir von der Entstehung des Hildegardweges berichtet. 2014 war die Theologin 200 Kilometer auf dem Jakobsweg gepilgert. „Warum haben wir sowas eigentlich nicht für die Heilige Hildegard?“, hat sie sich gefragt und nach ihrer Rückkehr den Stein ins Rollen gebracht.
Geholfen habe dabei ihr Engagement in der Lokalpolitik, berichtet die (halbe) Bad Kreuznacherin. Denn es waren noch eine ganze Menge Schritte nötig bis zur Eröffnung im September 2017.
Am Rand eines Weinbergs wacht eine 500 Jahre alte Eiche auf den letzten Meter zu den Ruinen über den Weg. Viele Besucher halten in Achtung vor dem Baum an dieser Stelle inne, erzählt Esser. Auch wir sammeln uns noch einmal, bevor wir weiter nach oben gehen.
Wo genau hat Hildegard gewohnt?
Auf dem Berg starten wir unseren Rundgang an einem der Plätze, die als möglicher Ort für die Frauenklause von Hildegard in Frage kommen. Die Forschung streitet sich über mindestens vier denkbare Varianten, erklärt mir die Fachfrau und führt mich an die Stelle, die sie selbst für wahrscheinlich hält.
Rosenbüsche zieren die Mauerreste. Der Platz verströmt eine tiefe Stille, der man sich kaum entziehen kann.
Gleich nebenan hat Gundula Friedman-Thormählen ein Labyrinth im Gras angelegt. Es ist ein Besinnungspfad, der in unerwarteten Windungen vom Außen ins Innen führt. Im Zentrum steht ein Baum. „Mit der Begehung des Labyrinths tauchen wir in eine mathematische Formel der Unendlichkeit ein“, sagt die Künstlerin.
Orte mit besonderer Anziehung
Es sind sehr stimmungsvolle Plätze hier auf dem Disibodenberg, selbst die weniger mit Bedeutung aufgeladenen Teile wie das Hospiz / Konvent (genaue Gebäudeverwendung umstritten). Viele der größeren Anlagen stammen aus einer Zeit, als Hildegard das Kloster bereits verlassen hatte.
Das ganze Klosterareal sei ein langjähriges Ausgrabungsprojekt gewesen, erzählt Esser. Erst 1985 begannen die privaten Eigentümer mit Hilfe des Landesamts für Denkmalpflege mit den Arbeiten zur Freilegung.
Unter anderem fanden sie mehr als 60 Grabplatten im ehemaligen Kreuzgang und Trümmerstücke aus mittelalterlicher Zeit, die jetzt im Museum zu besichtigen sind.
Visionen geben Antwort
Wir flanieren weiter zur modernen Hildegardisbergkapelle, die zum Meditieren einlädt. Die Tafel vor der Tür stellt die Frage nach der Dreieinigkeit. „Warum sind aller guten Dinge drei?“ und „Was denke ich, wenn ich von Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist höre?“
„Bei der Übersetzung und Zusammenfassung der Schriften Hildegard’s für die Tafeln habe ich mich gefragt, was eigentlich hinter den Visionen steht“, sagt Esser.
„Sie sind für mich Antworten auf zutiefst menschliche Fragen. Und aus diesen Fragen sind dann die Pilgerfragen für den Weg geworden.“
„Knallharte christliche Theologie“
Einige Tafeln und Themen hätten dabei durchaus kontroverse Reaktionen hervorgerufen, erzählt die Theologin weiter. Doch schlussendlich hätten die Wegbereiter ganz bewusst auch die „knallharte christliche Theologie“, für die Hildegard stehe, in die Landschaft gebracht.
Man könne manche der Inhalte und Fragen nicht allen Leuten zumuten, hieß es erst. Doch es ist möglich zeigt die Praxis. Das Böse, der Sündenfall, das jüngste Gericht – auf dem Hildegardweg haben die Pilger einmal die Gelegenheit altbekannte christliche Konzepte zu ergründen und für sich zu hinterfragen.
Am Schnittpunkt zwischen Theologie, Spiritualität und Sport
Tatsächlich ist Hildegard von Bingen ja nicht nur eine Heilkundige und Seherin, die in der alternativen Medizin und der spirituellen Szene stark verehrt wird. Sie ist auch eine katholische Heilige und eine Frau mit großer geschichtlicher Bedeutung. Der Hildegardweg deckt das ganze Spektrum der Universalgelehrten ab und kann für alle Besucher Impulse geben.
Aber es geht natürlich auch ganz ohne Auseinandersetzung. „Manche gehen auf dem Hildegardweg für eine sportliche Erfahrung und machen nebenbei vielleicht noch eine spirituelle. Andere kommen für das spirituelle Erlebnis und nehmen dabei das sportliche mit“, weiß Esser. Jeder solle seinen eigenen Weg finden.
Ein Wunsch zum Abschluss
Wir schließen unsere Runde an der Ruine der Abteikirche Sankt Nikolaus ab. Im ehemaligen Eingangsbereich steht eine dreistämmige Eiche als Symbol der Dreieinigkeit. Ein guter Ort, um den Disibodenberg noch einmal wirken zu lassen.
Fast jeder Besucher berichtet mit unterschiedlichen Worten davon, dass die Klosterruine ein sehr besonderer, ein irgendwie „magischer“ Platz sei. Viele sprechen von einem „Kraftort“ mit großer Wirkung und europaweiter Bedeutung. Wann und wie kann man sich darauf einlassen?
Annette Esser rät: „Geh am Morgen, wenn sonst keiner da ist.“ Das Drehkreuz erlaubt einen Zugang rund um die Uhr. Das klingt nach einem Plan für den frühen Montagmorgen. Ausgeschlafen eine Privataudienz mit dem Disibodenberg!
Bilanz:
- 13,6 Kilometer offizielle Pilgerei (10,6 für mich)
- Einfacher Weg durch Weinberge, offenes Feld und Stadt Bad Sobernheim
- Für Liebhaber ebener Strecke ohne Stolpersteine
- Gute Einkehrmöglichkeit im Biergarten der Kapellenbrauerei DenkmalZ in Bad Sobernheim: Hier gibt es ein leichtes Hildegardbier mit Bachminze und Ingwer (lecker!)
Persönliche Errungenschaften:
- Müder Kopf und mäßige Motivation
- Unglaublicher Bildungsboost durch das Treffen mit Annette Esser, der Initiatorin des Hildegardweges
- Unerwartete Einblicke in die Stadtentwicklung von Bad Sobernheim
Mein Blog läuft mit viel grünem Tee
Wenn Dir der Bericht gefallen hat, spendier mir doch eine Tasse.
Bei Klick auf das Symbol wirst Du zu PayPal weitergeleitet.
2 Comments
Robert De Taey
Liebe Frau Viel,
Wäre es möglich den gesamten Bericht über ihre neuntägige Pilgerwanderung zu bekommen?
Auch wenn möglich wo sie übernachtet haben? – Wandere sonst in Spanien auf den unterschiedlichen Caminos. In 2019 zuletzt von Sevilla über ourense nach Santiago.
Herzliche Pilgergrüße.
Robert De Taey. – robert@detaey.de.
Freue mich von ihnen zu hören, oder Nachricht zu bekommen.
Simone
Lieber Herr De Taey,
es freut mich, dass Sie auch Interesse an der Tour haben. Ich bin auf jeden Fall begeistert, wie Sie vielleicht gemerkt haben.
In der Tat habe ich vor meiner Reise ein kleines Servicepaket mit allen Infos zusammenzustellen. Bleiben Sie doch gerne in Kontakt oder abonnieren Sie meinen Newsletter.
Bis Freitag bin ich noch unterwegs. Die Zusammenfassung sollte bald danach erscheinen.
Herzlichen Gruß
Simone Viel