Hildegardweg 3. Etappe: Es grünt so grün die Grünkraft (Teil 3/9)
„Die Wetterfarbe ist grün.“ Im Radio des Hessischen Rundfunks geben sie dem Wetter in der Vorhersage immer eine Farbe. Also, grün sagen sie eigentlich nie. Heute wäre es vermutlich grau gewesen. Oder weiß-grau. Um 7 Uhr regnet es in Kirn horizontal und ziemlich heftig.
Doch dann kommt alles ganz anders. Der Tag wird in der Tat grün! Leuchtend-, tief- und wald-grün. Und später ein bisschen blau und dann rot. An den Stellen, wo Menschen, die dem Wetterbericht glauben, keine Sonnenmilch aufgetragen haben. *seufz
Üppiges Pflanzenreich
Die 18,2 Kilometer lange Etappe des Hildegardweges von Kirn nach Monzingen geht gleich zu Beginn mal wieder flott bergauf. Aber nach kurzem Blick in einen Basaltsteinbruch direkt in das erwähnte nährende Grün.
An einem Tag wie heute, nach intensiven Regenfällen, erscheint das Pflanzenreich noch üppiger, leuchtender und wilder als sonst.
Es hat Ende Juni noch die Frische des Frühlings, aber schon die Kraft des Sommers.
Grünkraft – das deutsche Prana
Hildegard von Bingen spricht in ihren Schriften immer wieder von „Viriditas“, was im Deutschen als „Grünkraft“ übersetzt wird. Sie beschreibt, wie diese Viriditas allem innewohnt.
Damit meine sie nicht nur das Wachstum in der Natur, heißt es im Pilgerbuch. “Sie deutet das beobachtete Wachstum auch als göttliche Lebenskraft und findet damit einen Namen für Gott selbst.” Gott sei für Hildegard Liebe, Weisheit und Grünkraft.
Für mich klingen die modernen Erläuterungen dazu wie „Chi“ aus der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) oder wie das Prana im Yoga: alles durchdringende Lebenskraft, Energie und Schöpfungskraft.
Der Weg präsentiert reichlich davon, und es ist auch der Text des Tages im Pilgerbuch. Zusammen mit einem Lied von Hildegard:
„O nobilissima viriditas“
„Oh edelstes Grün, das Du in der Sonne wurzelst,
nichts Irdische kann Dich begreifen.
Du bist umarmt von göttlichen Mysterien.
Bist Du doch strahlend wie die Morgenröte
und brennst wie die Flamme der Sonne.“
Perfekte Wanderbedingungen
Wir wandern weiter durch lichte Wäldchen und dichte Forste, stapfen durch hohes Gras, vorbei an Weiden, Hecken und Büschen. Am Morgen ist alles noch nass und kraftvoll, der Himmel leicht verhangen. Perfektes Wanderwetter.
Und auch sonst ideale Bedingungen: Meine Begleitung heute ist aus Rheinhessen angereist und erleichert mich um mein halbes Gepäck, das den Tag im geparkten Auto in Kirn verbringen darf. Da geht es doch gleich viel beschwingter auf die dritte Etappe!
Was sind Körper, Seele und Geist?
Nach rund 4 Kilometern bietet sich als erster Stopp auf dem Weg die Stiftskirche St. Johannisberg an. Auch dieses Gotteshaus ist wegen Corona geschlossen, lädt aber im Kirchgarten zur Kontemplation einer neuen Pilgerfrage ein: „Was verstehe ich unter Körper, Seele und Geist?“
Die Begriffe bringen viel kulturelle Fracht mit sich, sind wir uns einig. Und was wäre dann in dem Zusammenhang der Verstand?
In ihrem vierten Visionsbild sieht Hildegard den Menschen oder die Seele in untrennbarer Verbindung mit dem Schöpfer oder der Schöpfungskraft – in der Miniatur symbolisiert durch einen Lichtstrahl.
Skywalk neben Landhaus
Zurück aus den geistigen Höhen wandern wir vorbei am Landhaus St. Johannisberg zum neu eingerichteten „Skywalk“. Der Kontrast zwischen dem urtümlichen Biergarten und der Aussichtsplattform direkt dahinter könnte nicht nur in Bezug auf die werbeträchtige Namensgebung nicht größer sein.
Das Landhaus wäre eine Möglichkeit zum Einkehren, ist aber ebenfalls geschlossen. Der Metallbalkon ist dagegen immer geöffnet.
Sieben Meter ragt er über den Abhang hinaus Richtung Nahe und gibt den Blick frei auf den ehemaligen Steinbruch direkt darunter und Europas größte Blockschutthalde, den Hellberg, gegenüber.
Mit 65 Quadratmetern ist die Aussichtsplattform recht groß, aber das Lochgitter dürfte Menschen mit Höhenangst dennoch eher ungeheuer sein.
Von der Bierstadt Kirn ins Rebenmeer bei Monzingen
Über kreative Wegführung entlang schmaler Pfade passieren wir Hochstetten und kommen nach Simmertal. Nicht ohne am Friedhof Zurufe des Erstaunens zu ernten, dass wir heute noch bis (ins 12 Kilometer entfernte) Monzingen wollen. „Bei dem Wetter?!“
Tatsächlich gab es in den 10 Minuten am exponierten Skywalk ein paar Spritzer vom Himmel. Aber es lohnte kaum, die Regenjacke anzuziehen. Keine Stunde später öffnet sich die Bewaldung hinter Simmertal in die ersten Weinterrassen. Die Wetterfarbe wird blau.
Hoch gelobte Weine von der Nahe
„Klassische Rebsorten wie Riesling, Silvaner, Müller-Thurgau, Weißburgunder, Grauburgunder sowie Bacchus und Dornfelder“ werden (laut Monzinger Website) in den drei folgenden Weinorten angebaut.
Goethe wird zitiert mit Lob über den Nahe-Wein: „Nun rühmte die Gesellschaft von der Nahe einen in der Gegend wachsenden Wein, den Monzinger genannt. Er soll sich leicht und angenehm wegtrinken, aber doch, ehe man sich’s versieht, zu Kopfe steigen.”
Wasser lieber mit Bier oder Wein mischen
Und von Hildegard ist überliefert, dass sie sowohl Bier als auch Wein in Maßen empfiehlt. Insbesondere im Winter sollten die Menschen Bier und Wein im Wasser trinken, rät die Heilkundige. Offenbar litt die Wasserqualität zu ihrer Zeit in der feuchten Jahreshälfte so stark, dass der Alkohol vor Infektionen schützen sollte.
Das Bier war im 12. Jahrhundert aus Hafer und gelegentlich mit Honig versetzt. Und den Wein nutzte Hildegard zudem zum Konservieren von Lebensmittel und zum Herstellen von Pflanzenextrakten aus Heilkräutern.
Sie beschäftigte sich mit vielerlei alten und neuen Anwendungen von Medizinalweinen und Tinkturen aus Wein und verwendete auch andere Pflanzenteile zu Heilzwecken.
Pizza statt Wein
Noch ist keine Zeit für Wein, aber Pizza ist nach den bald 19 Kilometern dringend nötig. Überraschenderweise bietet das beschauliche Monzingen ein Lokal, das am Nachmittag geöffnet hat!
4-5 Pilger pro Woche sieht das „Alt Monzingen“ in der Saison von Mai bis Oktober, erzählt der Kellner. Meist am Wochenende und natürlich wetterabhängig. Klingt noch nicht nach großem Ansturm.
„Aber darauf wären die kleinen Orte auch gar nicht vorbereitet“, bestätigt ein Einheimischer, mit dem wir am Ende der Etappe ins Gespräch kommen. Er zeigt uns noch eine eher versteckte Hildegardtafel im Kirchhof der historischen Altstadt und berichtet, dass unsere heutige Etappe eine seiner liebsten Joggingstrecken ist. Zur Erinnerung: Es waren 18,2 Kilometer.
Zugabe! Zugabe!
Mich bewegt ja zu diesem Zeitpunkt eher der Gedanke, dass ich trotz Etappenschluss noch nicht am Ende bin. Alle bezahlbaren Optionen in Monzingen (und das waren nicht viele) waren am Wochenende belegt. Die Alternative heißt: Biwak oder Weiterpilgern.
Also gibt es eine kleine Zugabe von 3 Kilometern für mich. Meine Begleitung nimmt bequem den Zug zurück nach Kirn. Immerhin liegt die alternative Unterkunft auf der Strecke. Also habe ich für morgen Kilometer gespart. Das stimmt froh!
Fehlende Pilgerherbergen
Doch meine Buchungserfahrungen haben gezeigt, es fehlt nicht nur in Monzingen an Betten für Pilger. 4-Sterne-Hotels oder Ferienwohnungen passen nicht wirklich zum klassischen Klientel der Fernwanderer auf Inspirationssuche.
Spätestens im Gefolge von Hape Kerkelings Reise auf dem großen Camino denken die Hobbypilger eher an einfache Übernachtunsgmöglichkeiten, vielleicht sogar Mehrbettzimmer. Pilgerherbergen eben.
Vor allem, wenn sie wie ich eher in die Kategorie Bettel-Mönch als in die Abteilung Wellness-Wallfahrer fallen.
Allrounder-Tour für Pilger-Greenhorns
In Nußbaum nächtige ich stilgerecht im ersten Winzerhaus am Platze – als einziger Gast in einer großen Pension. Wohlversorgt mit Weinkühlschrank im Gästeraum, Tee für die Entspannung und ein geräumiges Zimmer, das keine Wünsche übrig lässt. Es gibt sogar funktionierendes Internet. IM Haus! Was will die moderne Pilgerin mehr?
Die dritte Etappe des Hildegardweges bietet wirklich alles, was das Wanderer- und auch das Pilgerherz begehrt. Fast wie eine Synthese aus den ersten beiden Tagen: Dichte Wälder, saftige Weiden, Blumenwiesen, tolle Ausblicke, schmale Pfade, bequeme Wege, ein wenig bergauf, ein wenig bergab, aber nix was weh tut, anheimelnde Ortschaften mit (verschlossenen) Kirchen, zahlreiche Info- und Meditationstafeln und zum krönenden Abschluss die Weinberge des Anbaugebietes Nahe.
Den Stempel für den Pilgerpass bekomme ich zwar in der Pizzeria statt im Gotteshaus, doch das Herz hat lange schon die Grünkraft gestempelt.
Bilanz:
- 18,2 km offizielle Pilgerei + 3 km zum nächsten Ort für die Übernachtung
- Abwechslungsreichste Tour bisher
- Für Liebhaber weiter, aber gemäßigter Wanderungen mit allem, was Spaß macht
- Sehr aufgeschlossene Menschen allerorten
- Theoretische Einkehrmöglichkeit Landhaus St. Johannisberg (anrufen!)
- Gute Erreichbarkeit für eine Tagestour mit Bahnhöfen an beiden Enden
Persönliche Errungenschaften:
- Leichtes Gepäck dank Versorgungsfahrzeug
- Sonnenbrand am restlichen Körper trotz desolater Wettervorhersage
- Monsterpizza und Mega-Schorlen im „Alt Monzingen“ (empfehlenswert!)
- 3 Kilometer von morgen schon vorgelaufen!
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