Hildegardweg 8. Etappe: Von Klamm zu Klamm (Teil 8/9)
Die 8. Etappe des Hildegardweges beendet eine lange Reise: Durch das weite Hildegardland folgt der Weg auf rund 140 Kilometern den Lebensspuren der Heiligen. Von ihrem (vermuteten) Geburtsort am Fuße des Hunsrücks über ihre erste Wirkungsstätte am Disibodenberg bis nach Bingen am Rhein, wo „die mächtigste Frau des Mittelalters“ ihre eigenen Klöster gründete und mit 82 Jahren (!) ihren Körper verließ.
Als ich in Bingerbrück aus dem Wald heraustrete, öffnet sich eine andere Welt. Klingt vielleicht etwas übertrieben. Aber es fühlt sich tatsächlich so an, als wäre ich aus den abgelegensten Gegenden langsam aber sicher in die große Stadt gekommen. In der Regel kein Prädikat, das Bingen für sich beansprucht.
Doch nach der Ruhe im schönen Soonwald, den fantastischen Weitblicken in den Höhenlagen und den unterhaltsamen Widrigkeiten in der Infrastruktur (die mich fast vergessen lassen, dass ich in Deutschland bin) wirkt es ganz schön geschäftig hier am Rhein.
Guten Morgen in der Strombergklamm
Aber von Anfang an. Mein Tag beginnt in Eckenroth, ein kleines Örtchen, das je nach Wegewahl 3-7 Kilometer vom Start der heutigen Etappe entfernt liegt. „Gehen Sie durch die Klamm“, hatte mir mein Taxifahrer am Vortag ans Herz gelegt. Und da ich Locals auf der ganzen Welt vertraue, mache ich das natürlich auch.
Bei bestem Sonnenschein verabschiede ich mich von meinen reizenden Gastgebern und pilgere los. Die letzte Langstrecke der Tour! Kaum zu glauben, dass es nun schon so bald vorbei sein soll.
Ein bisschen Feldweg durch Wiesen und Äcker und ein bisschen Straße durch das benachbarte Schindeldorf begleiten mich auf dem direkten Weg zur Stromberger Klamm. Alsbald stoße ich wieder auf den Hildegardweg, Etappe 7, das letzte Stück vom Vortag. Das Wanderzeichen mit der Nonnenhaube löst mittlerweile Gefühle von Zuhause-Sein bei mir aus. Es leuchtet wie eine Ampel aus weiter Ferne!
Baum-Umarm-Stimmung
Anstatt wie gestern der Etappe bis zum Ende zu folgen, biege ich nun allerdings tiefer in den Wald ab und folge einem der hiesigen „Vitalwege“ in die Stadt. Eine Entscheidung, die ich jedem Hildegardpilger (auch beim ersten Mal) empfehlen kann!
Die Stromberger Klamm ist ein entzückendes Waldstück mit schmalen Pfaden, die sich über vielerlei Brücken und Stiegen rechts und links um den Guldenbach winden.
Eine Klamm ist anders als ein Kerbtal ein steilerer Einschnitt in der Landschaft, der durch Wasserkraft statt durch Erosion entsteht, lerne ich auf einer Tafel am Eingang des Weges. Weiter unten haben die Wegbetreuer Schilder mit Gedanken und Gedichten zum Wald aufgehängt. Ich komme in Baum-Umarm-Stimmung.
Anschluss an die Welt da draußen
Wo der Guldenbach sich breiter in den Ort ergießt, erreiche ich Stromberg. Für ein letztes Bild hier zücke ich wieder mal mein Smartphone, das dieser Tage alles ist: Meine Navigation, mein Notizbuch, mein Fotoapparat und natürlich die Verbindung in die andere Welt da draußen. Und da bimmelt es doch tatsächlich. Bemerkenswert, weil Netz hatte ich weiß Gott nicht immer auf dieser Strecke durch Rheinland-Pfalz.
Ein guter Freund mit Tagesfreizeit an einem Donnerstag hat beim Frühstück meinen aktuellen Blog gelesen und will mich heute gerne ein Stück des Weges begleiten. Wir machen einen Treffpunkt auf der Mitte der Strecke aus und ich begebe mich erst einmal zum eigentlichen Start der heutigen Tour!
Das Leiden mit dem Asphalt
Man könnte in Stromberg sicher noch etwas verweilen. Die Kirchen besuchen oder die Stromburg besichtigen, aber ich will raus in die Natur. Flux führt Hildegard mich aus dem Ort und am Friedhof vorbei in ein weiteres kleines Wäldchen. Frisch und würzig ist die Luft hier draußen.
Als kleiner Malus erscheint mir mal wieder das andauernde Gehen auf Asphalt. Irgendwie komme ich da nicht drüber weg. Vermutlich sind feste Wege beim Pilgern unausweichlich, resümmiere ich. Schließlich geht der Pilger immer wieder durch Orte durch, und Deutschland ist nun mal ein Land mit ordentlichem Straßen- und Wegenetz. Keine Ahnung, was ich und meine Gelenke erwartet hatten.
Der Weg führt nun zur A 61 und unter der Autobahn hindurch. Die Begegnung mit der Schnellstraße erscheint wie ein erster Vorbote von dichterer Zivilisation. Auf dem offenen Feld bei Warmsroth ragen Hochspannungsmasten, Überlandleitungen und Windräder in den bewegten Himmel. Ein neues Fotomotiv vor den wilden Wolken.
Das Ende der Welt
Vereinzelte Spaziergänger und Radfahrer begegnen mir. Eine der Straßen ist so schmal, dass ich erst beim neuerlichen Abbiegen ins Feld merke, dass es tatsächlich eine reguläre Landstraße mit Leitpfosten ist.
Im Weiler Wald-Erbach findet eine der wenigen Begegnungen mit Hildegard statt auf dieser Etappe. Es gibt keine direkten Anknüpfungspunkte mit der Biographie in dieser Gegend. Der Pilger ist einfach auf dem Weg nach Bingen – genau wie Hildegard seinerzeit in die Stadt am Rhein aufgebrochen ist.
Die Meditationstafel an der St. Pankratius-Kapelle fragt den Pilger: „Habe ich mir schon einmal das Ende der Welt vorgestellt?“ Ui. Das kann ich tatsächlich verneinen. Ich dachte immer, das „Ganz Andere“ ist unendlich, also ohne Anfang und Ende. Und das „Hier und Jetzt“? Die „Welt“, wie wir sie kennen?
Apokalyptische Seherin
Ihre Visionen zum Ende der Zeiten haben Hildegard als apokalyptische Seherin berühmt gemacht, lerne ich von den letzten Meditationstafeln des Weges. Lange Zeit war sie sogar fast ausschließlich für ihre apokalyptischen Visionen bekannt. Die Bilder sind sperrig und schwer verdaulich.
Das Pilgerbuch bietet einen Transfer der gruseligen und weltfernen Schauungen in die heutige Zeit an: „Kann ich mir vorstellen, dass Ungerechtigkeit, Bösartigkeit, Lügen und Gewalt heute buchstäblich zum Himmel stinken?“ Vielleicht können die Visionen als Allegorien, als Gleichnisse auf ganz „reale“ Vorgänge in unseren Zeiten gedeutet werden.
Die friedlichen Pferdekoppeln des hiesigen Gestütes kontrastieren ganz wunderbar mit derlei Fragestellungen. Es fällt leicht, das Thema wieder auszublenden.
„Sie lehrt uns Mysterien“
In einem Gedicht von Karen S. E. Raven über die große Mystikerin Hildegard im Pilgerbuch heißt es treffend:
“Sie gibt uns Rätsel zu lösen
Sie gibt uns Fragen zu beantworten
Sie gibt uns Botschaften
Die schwer zu verstehen sind […]
Sie gibt uns Hinweise
Sie lehrt uns Mysterien
Sie versucht uns zu helfen
Unseren Weg zu Gott zu finden
Und zu unserer Heilung”
Die Meditationstafeln, die entsprechend der Reihenfolge in Hildegards Werk „Scivias“ mit der Schöpfung begannen, enden nun mit dem „Tag der großen Offenbarung“ und den „Chören der Seligen“. Der Kreis schließt sich.
Bambi auf der Extrarunde
Hinter dem Gestüt ergänze ich die Wegstrecke (mal wieder) um fast einen Kilometer durch kreatives Schilderlesen entlang der Wiesen. Wahrscheinlich bereits mit den Chören der Seligen gesungen. Immerhin treffe ich Bambi am Ende meiner Extrarunde.
Der rechte Weg geht flink wieder Richtung Wald, aber zunächst in großem Bogen am Waldrand entlang, stetig bergauf. Schließlich biege ich ein auf eine schnurgerade „Waldautobahn“, einen breiten Forstweg Richtung Waldalgesheim. Schon aus der Ferne kann ich hier meinen heutigen Wegbegleiter winken sehen.
Die Waldgeister mit Gesicht
Weiter geht’s auf die letzten 10 Kilometer, nun sogar mit moralischer Unterstützung. Eine schöne Attraktion wartet auf uns in der Steckeschlääferklamm. Nein, kein Tippfehler. Der Name kommt vom müden Wanderer, der beim Gehen seinen Stock auf dem Boden schleifen lässt. Lokale Mundart und der Name eines Wandervereins.
Das Grinsen im Gesicht vertieft sich, als wir Dutzende von Holzschnitzarbeiten an Baumstümpfen und Wurzelwerk rund um den Hasselbach entdecken. Die ausdrucksstarken Gesichter erwecken den Wald regelrecht zum Leben. 65 Stück sollen es insgesamt sein.
Oh, Du schönes Morgenbachtal
Weil es schon deutlich nach Mittag ist, kehren wir nach diesem Fotovergnügen erst einmal ein. Es gibt doch tatsächlich auf dieser Wegstrecke gleich mehrere Möglichkeiten, selbst an einem Wochentag am Mittag für das leibliche Wohl zu sorgen.
Im Forsthaus Jägerhaus, nur wenige Meter abseits des Weges, wo der Hasselbach in den Morgenbach mündet, gibt es neben vielen pikanten Kleinigkeiten auch Flammkuchen und Salat.
Gestärkt geht es weiter ins Morgenbachtal, das mir in meiner Zeit als Sportkletterin mächtig ans Herz gewachsen ist. Auf breiten Wegen kommen wir flott voran. Für viele Kilometer ist der Hildegardweg hier ein einfacher, schöner Waldspaziergang.
Blick ins Mittelrheintal
Da endlich! Der Rhein! Verrückt, was das Erreichen des Zieles einer solchen Langstrecke in einem auslöst. Gut 130 Kilometer dürften es bis hier gewesen sein. Der Blick ins Welterbe Oberes Mittelrheintal verfehlt auch heute nicht seine Wirkung. Das Wasser des breiten Stroms klingt seltsam verheißungsvoll.
Am Schweizerhaus verabschiedet sich mein Freund zurück in die Wildnis und ich gehe im Tempo eines Nordic Walkers frohgemut der großen Stadt entgegen. Nix mit Stöcke schleifen lassen! Der Stall ruft!
Der Rhein bahnt sich ab Bingen seinen Weg durch das rheinische Schiefergebirge und auch der Weg umschifft von nun an immer wieder kleine Felsbrocken und Blockschutthalden. Für Klammliebhaber liegt zum Ende hin tatsächlich noch eine dritte auf dem Weg: die Kreuzbachklamm. Ich denke, es hat sich ausgeklammt für heute und lasse die Verlockung links liegen.
Aus Versehen schon angekommen
Immer wieder öffnet sich der Wald zu herrlichen Ausblicken auf das Mittelrheintal, bis ich ziemlich unvermittelt aus dem Dickicht breche und direkt vor der Jugendherberge stehe, in der ich heute ein Zimmer gebucht habe. Upsi! Schon fertig?
Die Zeit verging wirklich wie im Flug. Es lief sich so leicht. Hat sich gar nicht angefühlt wie 24 Kilometer. Ein Freund hatte mich vorgewarnt: „Irgendwann geht es wie von selbst, und am Schluss will Dein Körper einfach immer nur noch mehr.“
Im Abendlicht genieße ich den Blick auf den Binger Mäuseturm inmitten der Fluten und auf die Ruine von Burg Ehrenfels am gegenüberliegenden Rheinufer. Zum Glück gibt es morgen noch zwei kleine Runden entlang der Lebensstationen von Hildegard in Bingen und Rüdesheim. Erst in der Wallfahrtskirche in Eibingen ist die Pilgerreise wirklich zu Ende.
Einstweilen begeistert mich die Lage der Jugendherberge in Bingen: Pole Position direkt am Fluss. Frühstücksraum mit Panoramafenster und Zimmer mit Blick auf Weinberge und Burgruine (anfragen!).
Der Chlorgeruch in meiner Kemenate verschlägt mir zwar fast den Atem, doch auch Corona wird ja wie die ehrwürdigen Zeitzeugen am Fluss irgendwann Geschichte sein. Und das Ambiente lässt mich selig entschlummern. Wie auch die sieben Nächte vorher schlafe ich tief und traumlos, sobald mein Kopf das Kissen berührt.
Bilanz:
- 19,6 km auf offizieller Etappe (+4 für Simone)
- Gemütliche Wanderung mit hohem Waldanteil, 3 Klammbesuche möglich
- Für Liebhaber einer einfachen Langstrecke
- Einkehrmöglichkeiten: Forsthaus Jägerhaus (mit Freizeitheim) und Forsthaus Heiligkreuz
Persönliche Errungenschaften:
- Erster gesamtdeutscher Klammrekord
- Dynamisches Stöcke Schwingen bei Kilometer 130
- Entdeckung der neuen Leichtigkeit des Gehens
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