Hildegardweg 6. Etappe: Mitten im Leben oder völlig aus der Welt? (Teil 6/9)
Heute muss ich die Geschichte von Jutta von Sponheim erzählen. Denn die 6. Etappe auf dem Hildegardweg führt vorbei am Stammsitz derer von Sponheim, und Jutta war viele Jahre die Lehrerin und Klostervorsteherin von Hildegard von Bingen, vielleicht sogar wie eine ältere Schwester für sie.
Doch während Jutta ständigen Verzicht übte, lebte Hildegard dem Leben zugewandt – wohlwollend und verständnisvoll. Als „kämpferisch und barmherzig“ zugleich beschreibt Hildegard-Biographin Barbara Beuys die berühmte Nonne, die überraschenderweise einen ganz anderen Weg ging als ihr Rollenmodell.
Die erste Wallfahrt
Mein rund 17 Kilometer langer Weg beginnt heute in Waldböckelheim und schießt wieder über das Ziel hinaus. Am Etappenende in Braunweiler gab es keine Unterkünfte. Jedenfalls keine, die ich gefunden hätte. Und da ich ja eh schon weitergelaufen bin als vorgesehen, kann ich dieses Muster nun auch einfach fortzusetzen.
Statt Schloßböckelheim – Braunweiler pilgere ich also Waldböckelheim – Spabrücken. Wohl kein Einzelfall lerne ich im Gespräch mit meinem Gastgeber: „Das war auch die Strecke unserer Wallfahrt mit den Pfadfindern früher.“ Na dann bin ich ja in bester Gesellschaft.
Burg Sponheim in Burgsponheim
Der Himmel ist zur Mittagszeit wolkenverhangen. Vom Hotel sind es dieses Mal nur 700 Meter zur Hauptstrecke. Der Weg geht durchs Feld und führt bald auf eine Landstraße.
Tatsächlich geht es danach für eine ganze Weile auf ebendieser Landstraße weiter. Zunächst in den Ort Burgsponheim. Der heißt wirklich so und beherbergt die Burg Sponheim (!).
Wer in die Burg hinein möchte, bekommt unkompliziert bei verschiedenen Menschen im Dorf den Schlüssel zum Turm.
Jutta wurde hier 1092, 6 Jahre vor Hildegard, geboren. Nach schwerer Krankheit gelobte Jutta, Nonne zu werden und war wohl als Mädchen ein rechtes Energiebündel. Sie riss aus von der Burg, um vom Erzbischof in Mainz „den Schleier zu nehmen“ – Symbol für ein gottgeweihtes Leben. Die Familie hätte sie gerne ordentlich verheiratet, doch Jutta träumte davon, ins Heilige Land zu pilgern.
Eintritt ins Kloster
Der Bruder schob schließlich einen Riegel vor und „empfahl“ ihr den Eintritt ins Kloster am Disibodenberg. Jutta gehorchte und begründete mit ihrer Ankunft im Jahr 1112 die Frauenabteilung der dortigen Benediktiner. Hildegard von Bingen und ein weiteres Mädchen begleiteten sie.
Das ist der Beginn der gemeinsamen Zeit der beiden Frauen im Kloster. Hildegard war damals 14 Jahre, sagt die neuere Forschung.
Gleichermaßen interessiert und abgestoßen lese ich von den Praktiken der Jutta von Sponheim. Sie entscheidet sich für ein Leben in absoluter Enthaltsamkeit, was ihre Besitztümer und ihre Ernährung betrifft. Sie fastet oft und sitzt nächtelang in Gebet und Gesang vertieft.
Doch schier unvorstellbar für uns heute geißelt sie sich überdies regelmäßig und trägt permanent einen eisernen Dornengürtel um ihren Körper. Ich wünschte wirklich, sie hätte ihre Energie anders genutzt und wäre zu Fuß nach Jerusalem gegangen…
Hildegard ist anders
Hildegard von Bingen folgt keiner dieser Praktiken. Vermutlich war sie, die von Kind an als schwach und kränklich galt, auch gar nicht in der Lage dazu. Doch ihre späteren Äußerungen machen deutlich, dass sie auch schlicht anderer Ansicht war. Sie pflegte und stärkte Körper und Seele – ihre eigenen wie die ihrer Patienten – anstatt sich selbst zu züchtigen.
Es heißt, sie habe gut Sorge getragen für die Frauen in ihrer Obhut. Nach Juttas Tod 1136 als Magistra auf dem Disibodenberg und später in ihrem eigenen Kloster auf dem Rupertsberg in Bingen. Sie hat auch lange nicht so zurückgezogen gelebt wie Jutta.
In ihrer zweiten Lebenshälfte unterhielt sie rege Briefwechsel mit Menschen unterschiedlichen Standes und reiste über das Land um zu predigen. Fast 400 Briefe sind bis heute von ihr erhalten. In einigen findet sie äußerst kritische und mahnende Worte gegenüber den Mächtigen ihrer Zeit – darunter der berühmte Kaiser Friedrich Barbarossa.
Mitten im Leben
Man könnte sagen, die Nonne stand mitten im Leben. Wie es sein kann, dass Jutta und Hildegard so eng nebeneinander lebten und die jeweils andere anscheinend völlig in ihrer Überzeugung bestehen ließ, fasziniert mich.
Die Entscheidung zwischen Weltabgewandtheit und Leben inmitten des täglichen Wahnsinns ist eine, die jeder Mensch, der spirituelle Praxis in irgendeiner Form ernst nimmt, irgendwann (und immer wieder) treffen muss.
Die hinduistische Tradition knüpft es an das Alter: Als “Rentner”, wenn alle Alltagspflichten erledigt sind, gehen Männer gerne ins Kloster, um sich ihrer spirituellen Erweckung zu widmen.
In der buddhistischen Kultur in Thailand gehen alle Männer und viele Frauen mindestens einmal in ihrem Leben ins Kloster in der Regel 3 Wochen oder 3 Monate.
Tugendhaft leben
Mitten im Leben zu stehen und gleichzeitig diszipliniert einen definierten Tugendkatalog zu erfüllen, ist eine große Herausforderung. Das ist einfacher in der sprichwörtlichen Höhle im Himalaya oder zurückgezogen in Kloster oder Retreat gleich welcher Art.
„Nach welchen ethischen Haltungen richte ich mein Leben aus?“, lautet denn auch passend die Pilgerfrage auf der Tafel bei Burg Sponheim. Hildegard nennt in einer Vision die Liebe zum Himmlischen, Disziplin, Schamhaftigkeit, Barmherzigkeit und der Sieg der Gerechtigkeit. Sperrige Wörter, die jeder für sich übersetzen muss.
Doch heute mag ich nicht soviel sinnieren. Irgendwie ist es mehr ein Geschichtstag. Und so pilgere ich flott weiter auf asphaltierten Straßen und Wirtschaftswegen nach Sponheim ohne Burg.
Labyrinth des Lebens
Das Dörfchen Sponheim ist weithin bekannt für seine große ehemalige Klosterkirche. Sie thront auf einer Anhöhe und ist so aus allen Himmelsrichtungen gut sichtbar.
Direkt hinter der Kirche findet sich ein weiteres Kräutergärtchen in Klostertradition, mit Heilpflanzen aus den Büchern der Hildegard bepflanzt. Mehrere Bänke und eine Trinkwasserquelle laden zum Verweilen ein. Und wenn man so spät startet wie ich, kann man hier auch hübsch die mitgebrachten Stullen verspeisen.
Ein Boden-Labyrinth aus Steinen und Holzspänen lockt auch hier wieder, sich einer herrlichen Allegorie des Lebens hinzugeben und beim Hindurchspazieren eigene Interpretationen zu den Windungen zu entwickeln.
Einfach nur wandern
Von Braunweiler über Dalberg bis hin zu meinem persönlichen Etappenziel Spabrücken gebe ich mich heute vollkommen dem Vergnügen einer einfachen Wanderung hin.
Die Strecke führt zu meiner großen Freude wieder einmal durch längere Waldstücke, wenn auch auf breiten Wegen. Hier kann das Auge wunderbar zur Ruhe kommen. Immer wieder tun sich kleinere und größere Lichtungen und Wiesenstücke auf.
Wege am Waldrand entlang und über Wiesen-, Wein- und Ackerflächen wechseln sich angenehm ab. In den Ortschaften fallen mir wieder die vielen Rosen auf. Das scheint ein Trend zu sein im Naheland. An den Wiesenrändern sind es die übervollen Kirschbäume, die dieses Jahr wirklich alles geben.
Bedeutender Wallfahrtsort
Zum Ende hin kommt ähnlich wie gestern noch ein schöner Gegenanstieg. Von der Ortschaft Dalberg geht es hoch zur Burgruine Dalburg, wo eine Meditationstafel fragt: „Was ist Glaube, was ist Unglaube, und was ist falscher Glaube für mich?“
Eine spannende Frage als Überleitung zum Besuch eines echten Wallfahrtortes. Spabrücken ist seit mindestens 650 Jahren Ziel von Wallfahrern. Sie kommen zur Verehrung einer schwarzen Madonna. Die imposante Klosterkirche Maria Himmelfahrt stammt dagegen erst aus dem 17. Jahrhundert.
Bis heute wird die Madonnenfigur einmal im Jahr an Mariä Geburt in einer großen Prozession durch den Ort getragen.
Wallfahre ich auch?
Bei einer Wallfahrt begeben sich Menschen an Orte, „an denen sie glauben, Gott oder Göttern näher zu sein oder zumindest in Kontakt zu göttlichen Kräften zu treten“, erläutert das Pilgerbuch die Geschichte einer weltweiten Tradition.
Ich fange langsam an, über das Ende meiner eigenen Pilgerreise nachzudenken. Ziel ist der Schrein mit den Gebeinen der Heiligen Hildegard in der Wallfahrtskirche Sankt Hildegard in Rüdesheim-Eibingen. Was mag mich dort erwarten?
Von der schwarzen Madonna zu Schwarzwälder Kirsch
Wie so oft auf dieser Pilgerwanderung wechselt das Vergeistigte in atemberaubenden Tempo mit dem Profanen – Spiritualität voll im Leben eben!
Und schon überquere ich die Straße in Spabrücken und beschließe die heutige Etappe mit einem schönen Becher Eis.
Danach steht nur noch Quartierfindung an. Die einzige Unterkunft, die ich auf dieser Tour über booking.com buchen konnte! Soll ein gutes Restaurant haben, hat mir ein Förster auf dem Weg im Wald zugerufen. Ich freue mich auf einen logistisch entspannten Abend.
Das Pilgermahl: Stulle und Nüsschen
Ein schönes und für die Region symptomatisches Gespräch entwickelt sich bei meiner Ankunft und Bezahlung in der Pension. „Ja, weil wir kein Frühstück haben, können wir etwas günstiger sein“, erzählt mein neuer Gastgeber leutselig. Upsiii. Da hatte ich wohl was nicht richtig gelesen auf der Buchungsplattform im Internet. Sie hatten WiFi. Das war mir wieder mal wichtiger. Egal, hab ja Müsli. Und ja, Bäcker gibt es.
„Und wo ist Ihr Restaurant für das Abendessen heute?“, frage ich emsig weiter. „Ach ja, das wird häufig verwechselt. Es gibt ein Restaurant mit gleichem Namen hier im Ort, aber das sind nicht wir. Und die haben auch nur Freitag bis Sonntag geöffnet. Aber unten an der Kirche, da gibt es noch ein Bistro.“
Genau, da hatte ich gerade Eis gegessen. Außerdem gab es dort auch noch Sandwiches, Burger und Pommes. Leute! Jetzt mal ehrlich! Das ist doch kein Essen!
Also gut. Dann kein Kinderteller für mich heute. Glücklicherweise habe ich noch eine Schnitte vom Frühstückstisch übrig und Nüsschen von meiner letzten Pilgerbegleitung. Wer sagt denn, dass man nicht morgens, mittags und abends dasselbe essen kann?
Ich beglückwünsche mich wiederholt zu der Entscheidung 750 Gramm Dinkel-Bergsteiger-Mischung durch Rheinland-Pfalz zu schleppen. Es tut wirklich Not….
Bilanz:
- 14,2 Kilometer auf der offiziellen 7. Etappe – etwa 17 für mich
- Abwechslungsreiche Tour über Straßen und Orte, Felder, Wiesen und Wälder
- Für Liebhaber einfacher Wege mit Wallfahrtsbonus
- Auf weiten Strecken für Radfahrer geeignet
- Hildegärtchen in Sponheim
Persönliche Errungenschaften:
- Mein erstes Eis auf der Strecke
- Meine erste Wallfahrt überhaupt
- Anflüge von Askese beim Abendmahl
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