Hildegardweg

Hildegardweg 1. Etappe: Hiker’s High im Hunsrück (Teil 1/9)

Gibt es eigentlich ein Hiker‘s High? Wenn ja, dann hatte ich das auf der ersten Etappe des Hildegardweges. Ungefähr ab Kilometer 13.

Vielleicht lag’s auch an der Kombination wenig Schlaf, etwas Hektik vorm Aufbruch und dann Kaltstart in eine 20 Kilometer Tour in schön welliger Landschaft. (Will heißen: 310 Meter rauf und 240 Meter runter. Immer wieder!)

Aber viel wahrscheinlicher ist „Viriditas“ schuld, die „Grünkraft“ nach Hildegard von Bingen. Die erste Etappe des Hildegardweges ist wirklich 100% Natur pur. Ausgedehnte Mischwälder mit Bilderbuchbächen wechseln sich mit herrlichen Wiesen auf den Höhen ab. Eine geniale Wegführung!

Menschenleere Traumpfade

Treppab und bergauf.Etwa 2.5 Stunden nach Aufbruch in Idar-Oberstein sehe ich das erste Mal eine Ortschaft – aus der Ferne. Einmal überquere ich eine Straße, nur um dann gleich wieder an einem lieblichen Bach entlang ins Gebüsch zu verschwinden.

Die stolze Zahl von insgesamt zwei menschlichen Wesen habe ich auf der gesamten Strecke am Horizont vorbeihuschen sehen. Nicht mal nah genug für ein Hallo!

Irgendwann haben das ganze kraftvolle Grün so weit abseits jeder Zivilisation und die Unmengen frischer Luft wohl ihre Wirkung getan, und die Euphorie brach sich Bahn.

Keine Minute zu früh! Wenig vorher wollte die Müdigkeit ein kurzes weinerliches Entree geben. Das Schild „noch 8.4 Kilometer“ klang so unglaublich wenig ermutigend nach den ersten 11…

Start mit einem Hindernis

Felsenkirche in Idar-Oberstein.Es war auch schon ein langer Tag bis dahin: 5:30 Uhr aufstehen, letzte Vorbereitungen, 3.5 Stunden Zugfahrt bis Idar-Oberstein, ein nicht gerechneter Kilometer vom Bahnhof zur Touristinfo zu Fuß, und dann endlich der erste Blick auf die spektakuläre Felsenkirche der Stadt.

Leider ist das Gotteshaus, das ein reuiger Sünder dereinst dem Felsen abgerungen hat, noch für den Rest des Jahres gesperrt. Es droht Steinschlaggefahr, erklärt mir die freundliche Dame in der Touristinfo, und die Sanierung habe sich als deutlich schwieriger herausgestellt als gedacht.

Schade – ein echtes Highlight der ersten Etappe entfällt. Aber auch von unten betrachtet verfehlt das einzigartige Bauwerk nicht seine Wirkung.

Etappenbeginn an der Touristinfo

Auch wenn nun ein Umweg nötig ist, lohnt sich ein Start bei der Touristinfo auf jeden Fall. Immerhin gibt es hier den Pilgerpass und bei Bedarf auch das Pilgerbuch zum Weg.

Außerdem lädt der nette Marktplatz vor der Infobude mit Restaurants, Cafés und Eisdielen zu einer ersten Stärkung ein, und neben dem Mineralienmuseum (wegen Corona aktuell nur Freitag bis Sonntag geöffnet) hat es eine tippitoppi öffentliche Toilette für die Schnellstarter.

Edelsteinstadt mit vielen Attraktionen

Idar-Oberstein ist berühmt für seinen Achat.Die Umleitung um den drohenden Bergsturz herum addiert einen weiteren Kilometer auf die Tour, aber dafür erhält man einen kurzen Eindruck der Edelstein-Stadt Idar-Oberstein: Was sie an städtebaulicher Schönheit vermissen lässt, macht sie mit Attraktionen wieder wett.

Neben der Felsenkirche gibt es noch eine veritable Burg, ein Schloss, das Edelsteinmuseum und das Mineralienmuseum – letztere ziemlich einzig in ihrer Art. Idar-Oberstein war lange Jahrzehnte ein Zentrum für Abbau und Schliff von Edelsteinen, zunächst aus der Region, dann auch aller Welt.

Noch heute zeugen ein halbes Dutzend Stein- und Modesschmuckhändler in der ansonsten eher freudlosen Fußgängerzone von dem Ruhm früherer Tage.

Ich bin dann mal weg

Immer auf den schmalen Pfaden unterwegs.Zeit, die Zivilisation zu verlassen und Mutter Natur in all ihren Erscheinungsformen zu begrüßen! Der (umgeleitete) Weg führt zunächst an Schloss Oberstein vorbei zu einem lieblichen Weiher, bevor er in den Nahe-Felsen-Pfad einbiegt.

Selten habe ich eine Wanderung gemacht, die so konsequent und so ausdauernd schmale Pfade nutzt. Der Hildegardweg deckt sich in dieser ersten Etappe mit einem Abschnitt des Saar-Hunsrück-Steigs, der 2010 zum Wanderweg des Jahres gewählt wurde.

Durch lichte Buchenmischwälder schlängelt sich der Weg treppauf und bergab an kleinen gurgelnden Bächen entlang. Es sind die Zuflüsse der Nahe: Ringelbach, Fischbach und Hosenbach. Allesamt wie aus dem Bilderbuch.

Immer wieder tut sich nach einer Biegung eine kleine Lichtung auf, bevor Haselalleen an kleinen Tälern entlang weiterführen zu wilden Wiesengründen.

Natur pur

Mittagspause mit Schmetterling.Nach gut zwei Stunden und knapp 8 Kilometern beschließe ich, eine verspätete Mittagspause einzulegen und mache es mir auf einem der zahlreichen Ruhemöbel am Wegesrand gemütlich.

Bänke, Tische und geschwungene Holzliegen erscheinen wie von Zauberhand genau dann, wenn sich der Wald wieder einmal zu einer üppigen Blumenwiese hin öffnet oder gerne auch direkt nach einer steilen Steigung.

Im Wald gesellen sich immer mehr leise summende Begleiter zu mir: Kleine Fliegen, die mich öfter hektisch vorm Gesicht winken lassen. So ein australischer Hut mit Netz wäre jetzt von Vorteil.

Oder irgendein Mückenspray gegen die Bremsen, die sich anfangen bei mir vorzustellen. Anscheinend mögen sie mich genauso gerne wie die Moskitos in den Tropen.

Mittagspause mit Schmetterling

Größeres Wildlife hält sich eher zurück. Verständlich angesichts von Temperatur und Tageszeit. Plus ich bin zu zügig unterwegs für ein mögliches Stelldichein mit Reh und Fuchs. Erkenntnis aus den Wäldern Thailands: Immer schnell genug gehen, damit die Stechviehcher nicht andocken können!

Ein Specht grüßt mich und ein Schmetterling leistet mir bei der Vesper Gesellschaft. Vogelstimmen statt Fluglärm und Autobahn – die perfekte Kulisse zum Runterfahren! Mein Kopf denkt sich langsam leer. Die Natur durchdringt mich.

Eine wirklich hervorragende Etappe um anzukommen in der Pilgerreise, wenn auch körperlich ein etwas steiler Einstieg.

Rutschige Abfahrten

Rauf geht ja bekanntlich (technisch) immer leichter als runter. Und so lege ich mich doch tatsächlich gleich zweimal hin auf einer der steilen Waldserpentinen durch einen Eichenhain. Der Boden ist trocken und extrem rutschig. Daumen lädiert, aber noch dran!

Nach dem Queren des lieblichen Fischbachs geht es zum Ausgleich nochmal steil bergan und mein innerer Schweinehund fragt leise, wie weit es denn jetzt wohl noch sei. Noch 8.4 Kilometer sagte das letzte Schild, my dear.

Sommer in Deutschland

Auf der Höhe öffnet sich das Gelände wieder für eine Reihe wilder Wiesen. Die Grillen zirpen um die Wette. Sommer in Deutschland! Eine leichte Brise streicht um die Nase. Perfekt. Kilometer 13. Das Hiker’s High setzt ein. Ich schwebe.

Hochebene im NaturschutzgebietDie Hochebene ist Teil zweier Naturschutzgebiete, erklärt eine Tafel am Wegesrand. Weitere Infoschilder führen in die Geschichte des Bergbaus in der Region ein. Irgendwo müssen die ganzen Edelsteine ja auch herkommen! Wenngleich es hier zunächst um den Abbau von Kupfer geht.

Im Hosenbachtal dann die Überreste einer Edelsteinschleiferei. Mitte des 19. Jahrhunderts standen hier bis zu sechs Schleifen direkt am Bach. Die Arbeit hier habe sich „bei einer schlechten Entlohnung, hart und oft lebensbedrohlich“ gestaltet, weiß die Infotafel zu berichten.

„Feuchtigkeit, niedrige Temperaturen, mühsame Arbeitsweise im Liegen und das Einatmen von Staubpartikeln führten meist zu einem frühen Tod der Schleifer.“

Idylle am Hosenbach

Idylle am Hosenbach.Die Idylle am Hosenbach erzählt heute ganz andere Geschichten, und die Bremsen werden gegen 17 Uhr doch zunehmend lästig. Also lieber mal weiter!

Die Schultern fangen an zu meckern und erinnern mich daran, dass dies der falsche Rucksack ist. Entscheidung aus Nostalgie statt Erfahrung. Glücklicherweise kommt morgen ein Versorgunsgfahrzeug aus der Heimat mit der Ersatz-Ausrüstung.

Die letzten 3 Kilometer ziehen sich. Aus dem zauberhaften Hosental biege ich erstmals auf breitere Wege ein.

Die Beschilderung ist im Übrigen einfach genial. Um die Wegmarkierungen zu sehen, muss man kaum den Blick heben. Verlaufen wirklich unmöglich.

Innere Stechuhr auf 15 km geeicht

Eine letzte ausgedehnte Steigung macht die Zielgerade zu einem besonderen Fest. Dennoch widerstehe ich den angebotenen Bänken am Bergrücken. Es ist jetzt wirklich Zeit anzukommen.

Vielleicht weil meine innere Stechuhr auf maximal 15 Kilometer geeicht ist? Auf meinen Wochenendausflügen laufe ich meist 8-12 Kilometer, selten mehr. Und das gilt auch für alle Wanderreisen.

Notiz an mich selbst: Nächstes Mal mehr Training in der Langdistanz vor Aufbruch.

Süßer die Glocken nie klingen

Fachwerkparadies Herrstein.18 Uhr. Ich höre die Glocken von Herrstein, dem heutigen Etappenziel. Welch ein süßer Klang! Zu sehen ist das mittelalterliche Örtchen jedoch immer noch nicht.

Über eine Weide auf der Höhe, ein Stück am Elektrozaun entlang geht der Pfad nun, bevor er sich steil durchs Gehölz in den Ort herunterwindet. Wirklich bis zum allerletzten Meter Natur pur!

Von der Ankunft regelrecht überrascht finde ich schnell meine Unterkunft – direkt am Weg gelegen, mit eigenem Restaurant und Biergarten. So soll es sein!

Das Zimmer ist super schnuckelig, die Dusche warm und es gibt tatsächlich Salat und Ofenkartoffel für die Vegetarier.

Ankommen auf dem Pilgerweg

Zwar habe ich keine Kirche besucht, keine Kerzchen angezündet und auch nicht viel mit Hildegard zu tun gehabt auf diesem Abschnitt des Weges. Pilgern wie man es sich landläufig vorstellt, war es so nicht.

Aber ich bin voll angekommen im Naheland, der Heimat der naturverbundenen Hildegard. Frisch und frei und mit einem fetten Grinsen im Gesicht schreibe ich diese Zeilen.

Und zum Thema der magischen Grünkraft lernen wir mehr an einem anderen Tag, verspricht das Pilgerbuch. Ich bin bereit!

Abseits der Zivilisation.

 

Bilanz:

  • 19,5 km Wegstrecke inkl. Umleitung
  • Überwiegend schattig
  • Tolle Tour für Naturliebhaber
  • Perfekte Wegführung zum Ankommen und Abschalten

Persönliche Errungenschaften:

  • Ein aufgeschrubbelter rechter Daumen
  • Diverse Bremsenstiche
  • 4 Liter Wasser und Schorle von Bett zu Bett
  • Erfolgreiche Umschiffung von Hunsrücker Saumagen und Oma’s Kartoffelwurst
  • Hiker’s High bei Kilometer 13
  • 110 traumhafte Naturfotos
  • Genug Grünkraft für eine ganze Woche!

 

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