In Transit

Russia on air

Eine Dreiersitzreihe ganz für mich. Was für ein Glück! Schlafen! Vielleicht. 2-3 Stündchen. Das wär schon schön. Der Russe vor mir macht sichs bequem. Zack, liegt er mit dem Sitz fast auf meinem Schoß. Oke, wir haben zwar noch nicht einmal abgehoben, aber man kann sich ja schonmal gemütlich einrichten, denke ich und ruckele meinerseits an dem lustigen Hebel für die Körperrückführung. Als ich den Kopf wieder nach vorne drehe, habe ich fast seine Hand im Gesicht. Ein mächtiger Arm räkelt sich nach hinten über die Lehne. Raumgreifendes Völkchen, diese Kaukasier.

Während ich noch sinniere, landen zwei russische Zeitungen auf dem mittleren Sitz, verfehlen knapp die Hand meines Vormannes und kommen halb auf meinem linken Bein zum Liegen. Schade, dass ich da nicht mitlesen kann. Das bedauert auch der russische Landsmann, der sich nun mit großem Schwung auf den Sitz am Gang fallen lässt. Das in Teilen zugeknöpfte Kurzarmhemd offenbart auch hier jede Menge männliche Vitalität.

Was ich denn wohl lese, fragt mein neuer Nachbar und beugt sich gefährlich weit in meine Komfortzone. Wie, ich könne nur deutsch und englisch und französisch nur ein bisschen? Ts. Ein Hauch von Missbilligung. Und eine Entschuldigung, sein Englisch sei leider nicht perfekt, sein Französisch umso besser. Ob ich den Mann auf dem Bild da kenne, den russischen Außenminister? Mein Französisch reicht für ein schwaches “no”. Mit mir lässt sich nicht reden.

Einheizen mit Wodka hilft

Aber mit der Dame in der Sitzreihe vorne dran, mit der er auch die Tüten im Overhead-Locker teilt (Tüten rein, Tasche raus, Tüte nochmal umräumen, nochmal gucken, Tüte wieder rein, Tasche rüber, alles auf den Sitz, diskutieren, Tasche hoch, Tüte nach rechts, Taschen nach links), und mit dem Muskelmann, zu dem die lose Hand gehört, mit denen kann er gut sprechen. Und lebhaft auch. Gesten, Volumen, Körpereinsatz, volles Programm.
Achso, und mit der Flasche Wodka natürlich. Er schwenkt sie durch die Reihen, verschwindet dann irgendwann nach vorne. Vermutlich zum Piloten. Denn dass sichs mit Schnaps besser fliegt, scheint Konsens unter russischen Reisenden zu sein. Zumindest umweht die Menschen im Gang erstaunlich häufig und eindringlich eine entsprechende Note.

Und der Grund könnte auch schlicht sein: Es ist scheiße-kalt in diesem Flieger. Warum die Herren alle Kurzarm tragen, ist mir dabei ein Rätsel. Vielleicht: kalt –> Wodka –> heiß –> Kurzarm?! Es ist wirklich kalt! Kälter als in anderen Fliegern! Echt jetzt! Nicht nur wegen mir und meinem komischen neuen Klima-Empfinden! Die Flugbegleiterin hat kein Verständnis für mich. Obwohl, man weiß es nicht. Tatsächlich hab ich noch keine von den Damen auf meinen mittlerweile 3 Flügen mit Aeroflot lächeln sehen. Ernste Gesellen arbeiten bei dieser Airline. Gnädig bekomme ich jedoch eine Decke überreicht.

Applaus! Applaus! Wir sind in Scheremetjevo!

Besser temperiert kommt endlich ein klitzekleines bisschen Schlaf. Zwar nur im Sitzen, denn die Begleitung des Wodka-Trinkers ist zwischenzeitlich zu mir umgezogen. Zwangsläufig, da der Stark-Armige plötzlich auf 3 Sitzen liegen musste. Versteh ich. Das war ja auch meine Vision. Mit steifem Nacken nicke ich ein, da landen wir schon. 1:30 Uhr in Deutschland, 4:30 in Moskau. Die Passagiere klatschen. Gut, vielleicht sollte man das wirklich machen bei Aeroflot?!

15 Stunden am Flughafen Moskau. Tadatamtadatam. Die Stühle in den Wartebereichen haben alle Lehnen an den Seiten. Terminal D, Terminal E, Terminal F. Aaaaaaaah! Eine Reihe, wo jemand die Armlehnen abmontiert hat! Sogar etwas versteckt ist sie, die Reihe. Direkt unter einer sehr leistungsstarken Klimaanlage, welche die Temperaturen von draußen notdürftig erhitzt. Never mind. Nach zwei Monaten Deutschland kann ich auch bei 15 Grad ohne Decke! Immerhin ist es nicht Sibirien. 3 harte Stunden Nick-ein-und-Nick-aus, besser als nix.

Es folgen ganz viele Nüsschen, einige hausmacher Käsebrote, etwas Verwaltungsarbeit am Computer und eine Runde Yoga im Baby-Wickelraum, als in Wartestunde 12 die Nerven endgültig zu flattern beginnen und Facebook auch nicht mehr helfen will. Das grobe Gezeter der örtlichen Putzfrau muss ich ignorieren. Sie hat kein Baby dabei und auch keine Mutter im Schlepptau. Also kein Handlungsbedarf, oder? Vielleicht wollte sie ja auch nur herausfinden, warum ich Ardha Matsyendrsana zuerst rechtsrum mache… Weiter geht’s in die nächste russische Nacht. Dieses Mal an Bord eines Langstrecken-Airbus.

Pech im Sitzplatzlotto, Glück bei der Wahl des Reiseziels?

So ein alkoholschwangerer Dicker oder wahlweise ein schreiendes Baby, das wären so die beiden weniger optimalen Sitznachbarn, denke ich nach dem Boarding bei mir als Schritt für Schritt die potenziellen Platzkarten für 12 C vorüberziehen. Aber achso! Es geht natürlich auch beides! Kaum hat die junge Mutter mit einem wahrhaft willensstarken Mädel unter 2 Jahren vor mir Platz genommen, baut sich ein kräftiger Russe vor mir auf.

Er sitze am Fenster. Ich müsse rücken. What??? Ich hatte doch aber auch… Verd*** Am Check-In in Frankfurt muss aber jemand was ganz falsch verstanden haben. Auf meiner Karte steht doch tatsächlich 12 C. Elender Mist. Der dicke Russe mit Vodka-Aroma quetscht sich durch. Das Kleinkind stabilisiert sich auf extrem ohrenbetäubender Frequenz. Der Russe ist kinderfreundlich und nimmt Kontakt auf. Die Lütte ist nicht interessiert, übt lieber weiter ihr Organ.

Dafür hat der Russe jetzt Kreislauf. Beim ersten Toilettengang bricht er auf dem Gang zusammen. Achduscheiße! Leider muss er nach der Erstversorgung und der erfolgreichen Rückkehr zu seinem Fensterplatz immer wieder mal raus. Tatsächlich sogar immer wieder mal sehr häufig. Schlafen war gestern. Oder nee, warte mal, das war vorgestern! Genau!

Keep cool! Paradise is waiting!

Naja, wollen mal nicht meckern. Die Lütte hat nur die erste Stunde kreischen können, dann war sie müde, so wie ich. Und der Russe, ja der hat sich auch bis 1,5 Stunden vor der Landung erholt und ist beschwingt vor mir zum Gepäckband gerannt.
Dazwischen lag immerhin recht zeitgemäßes individuelles Onboard-Entertainment. Kann jetzt hinter “Ice Age 4” (nie ein Fehler) und “Best Exotic Marigold Hotel” (man muss sich ja langsam mal Filme übers Altern im Ausland ansehen) Häkchen machen. Und dank der famosen Augentropfen sind mir auch die Äpfelchen nicht aus dem Kopf gefallen.

Also “Mai Benn rai kaaaaah!” wie immer. Paradise is waiting, und der Exkurs in die Leidenschaft der russischen Seele durchaus bemerkenswert. Reisen soll ja bilden und Vorurteile abbauen helfen. Wir merken uns: Vergiss die Käsebrote – kauf Wodka!

Die Erlösung heißt Suvarnabhumi. Selbst mit Aircondition auf Vollgas ist dieser Flughafen in Bangkok eine Sauna im Vergleich zu dem Eisbomber, der mich hergebracht hat. Bei der Landung klatschen wieder alle. Und ich auch. Mit vollem Herzen. Habe verstanden. Kopp khun khaaaaa, dear universe! I made it! I’m back!

Bildliche Impressionen von den 15 Stunden in Scheremetjevo:

PS: Weitere schöne Erlebnisse aus dem internationalen Flugverkehr bitte gerne hier teilen!

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