Start ins Blaue hinter Herrstein.
Hildegardweg

Hildegardweg 2. Etappe: Dornröschen schläft immer noch (Teil 2/9)

Es ist ein herrlicher Sommerabend im mittelalterlichen Herrstein. In der schmucken Altstadt sitzen Menschen vor ihren Fachwerkhäusern und plaudern. Der Dorfbrunnen plätschert, die Rosen blühen. Vergnügte Stimmen im Biergarten vor der ehemaligen Zehntscheune. Die ganze Szene wirkt ein wenig wie aus der Welt gefallen.

Uhrturm im mittelalterlichen Herrstein.Ein Eindruck, der sich verfestigt, als ich in meiner Unterkunft zaghaft nach Internet frage. Ich schäme mich ein bisschen, wie als würde ich ein Betäubungsmittel bestellen. Und das geht als Pilgerin natürlich nicht!

Die Antwort kommt schnell. „Nein, haben wir nicht. Aber sie können weiter oben im Ort den freien HotSpot der Handwerkskammer nutzen. Die haben den extra dafür eingerichtet.“

Schade, dass wir das nicht schon im Buchungsprozess geklärt hatten. Aber die aktuelle Unterkunft war eh schon mein mindestens fünfter Anruf in Herrstein. Reservierung übers Internet in meiner Preisklasse Fehlanzeige.

WiFi? Wofür brauchen Sie das denn?

Dornröschenschlaf im Hunsrück.Einsames Highlight aller Gespräche: „Was, bitte? WiFi?“ Zögern am anderen Ende der Leitung. (Ich stelle mir hier so ein „richtiges“ Telefon vor mit gebogenem Hörer, Gabel, Wählscheibe und Telefonbänkchen im Flur. Farbe: Tannengrün!). Flüstern im Hintergrund.

„Nein, das haben wir nicht. Wafür brauchen Sie das denn?“ Naja, ich bin eine moderne Pilgersfrau! Ich will nicht nur Pilgern, ich will auch öffentlich reflektieren, was mit mir passiert. Blog, Facebook, Instgram! Hashtag Hildegard, Hashtag BewusstLeben, Hashtag Entschleunigung.

Ich verstehe, dass man in der Pension seit Jahrzehnten entschleunigt lebt, ohne darüber sprechen zu müssen und trolle mich. Reisen in Asien ist definitiv einfacher. Zumindest als digitale Nomadin.

Kästchen im Keller

Freier HotSpot vor der Handwerkskammer Herrstein - ein Segen!Der öffentliche Hotspot in Herrstein stellt sich am Ende als ziemlich leistungsstark heraus. Ich wünschte, ich hätte ihn am Folgetag wieder nutzen können, als meine mit WiFi werbende Pension in Kirn das Kästchen im Keller nicht zum Laufen bekommt. Immerhin funktioniert in der Bierstadt mein mobiles Datennetz. Halleluja!

Bedingungen wie diese hatte ich zuletzt während eines Straßenbauprojektes in Nordindien, das ständig alle Glasfaserkabel der Internetanbieter zerlegte. Flexibel bleiben! Humor behalten! Pläne anpassen! Das kann man alles auch im Hunsrück lernen.

Eine Straßenmusikerin zieht am Abend mit ihrer Gitarre durch die verwinkelten Gässchen von Herrstein. Die Stimmung ist fedrig leicht und warm.

Zurück ins Mittelalter

Kornblumenblau und weizengelb sind die Farben von Etappe 2 am nächsten Tag. Eine liebe Freundin begleitet mich und wir spazieren erst einmal durch die malerische Altstadt, die uns sehr an unsere gemeinsame Heimat Gelnhausen (in Hessen) erinnert.

An der Schlosskirche lernen wir über die erste Vision der Hildegard. 32 Infotafeln und 27 Meditationstafeln informieren entlang des Hildegardweges über Leben, Wirken und Werk der Seherin, Prophetin, Autorin, Komponistin, Naturkundlerin und natürlich Äbtissin.

Große Lebensfragen

Tafel 3 auf dem Hildegardweg: Der Leuchtende.Die ersten beiden Tafeln sind bereits in Idar-Oberstein angebracht. Nummer drei und vier begutachten wir in Herrstein. Der interessierte Pilger darf sich Fragen stellen. Und keine kleinen!

„Wie stelle ich mir Gott vor? Welche Einstellung und Haltung habe ich zu Gott?“ steht auf dem mit Plastik eingefassten Brett im Kirchengärtlein. Anregung zur Kontemplation geben Worte und Nachdrucke der Miniaturen aus Hildegard’s Werk „Scivias“. Sie selbst spricht in ihren Schriften immer wieder vom „Lebendigen Licht“.

Vier Bücher hat sie insgesamt verfasst. An „Scivias“ habe sie 10 Jahre geschrieben, heißt es in der Überlieferung. Laut Pilgerbuch-Autorin Dr. Annette Esser ein „mysthisches Buch mit visionären Bildern.“

Ungewöhnlich für eine Frau im 12. Jahrhundert, dass sie gehört wurde und schreiben durfte. Immerhin brauchte es kostbare Wachstafeln und Pergament dafür und Kopisten, die das Original durch Abschriften immer wieder vervielfältigten.

Irgendetwas an Hildegard’s Schauungen muss die einflussreichen Männer ihrer Zeit – bis hin zum Papst – beeindruckt haben. Etwas muss für sie „wahr“ geklungen haben, mutmaßen wir.

Hinein ins Blaue

Sonnenschirm statt Wanderstock.Beschwingt starten wir von hier in die neue Etappe. Rund 16 Kilometer bis Kirn. Und natürlich geht es erst einmal bergauf. Meine Waden erinnern mich an die Höhenmeter von gestern. Es läuft noch nicht rund.

Durch ein kleines Wäldchen erreichen wir bald die nächste Hochebene. Blumenwiesen, Weizenfelder, Raps und Gräser soweit das Auge reicht. Alles überspannt von einem kornblumenblauen Himmel.

Eine leichte Brise kühlt ein wenig auf dem Weg nach Niederhosenbach. Statt Wanderstöcken ist heute ganz klar der Sonnenschirm gefragt.

Verschlafen und verschlossen

Meditationsecke an der evangelischen Kirche in Niederhosenbach.Nach neuester Forschung soll Niederhosenbach der Geburtsort von Hildegard von Bingen gewesen sein. Sichere Erkenntnisse gibt es nicht, nur Indizien.

Man merkt es dem unprätentiösen Hunsrück-Dörfchen nicht an. Immerhin bietet die evangelische Kirche die erste offizielle Ecke für eine „Hildegard-Meditation“ an. Unter einer riesigen Buche kann der Pilger sich fragen: „Was denke ich über den Ursprung von Gut und Böse?“

Die Frage lehnt sich an Hildegard’s zweite Vision im „Scivias“ an. In der Kirche soll sogar ein Faksimile des wertvollen Originals liegen. Doch auch dieses Gotteshaus ist  – wie alle anderen auf der Etappe – verschlossen. Ein Zettel an der Tür lädt ein, bei den Niederhosenbachern mit Schlüssel anzurufen.

Dornröschen schläft auch in Bergen

Hildegardstation in Bergen.Wir entscheiden uns dagegen und pilgern nach kurzer Besinnungspause weiter gen Bergen. Der Weg bleibt auf der Hochebene mit weiten Blicken, verläuft gelegentlich am Waldrand oder entlang kleiner Haine, die etwas Schatten spenden.

Es ist heiß heute! In Bergen soll es eine „Hildegard-Station“ geben mit Möglichkeit zur Einkehr. Etwas Erfrischung wäre nett. Und ein Stempel im Pilgerpass! Doch auch hier wäre vermutlich ein Telefonanruf nötig gewesen, um den allgegenwärtigen Dornröschenschlaf zu durchbrechen.

Bis zum Ende der Etappe sind es nur noch rund 4 Kilometer. Das klingt nach gar nichts, und wir beschließen einfach durchzulaufen. Nicht ohne ein zweites oder drittes Mal leicht vom Wege abzukommen.

Vertieft im Gespräch erscheinen die Aufkleber mit den Hildegardhauben an den Straßenschildern plötzlich viel kleiner als gestern. Verlaufen ist also doch möglich!

Heiß ersehnte Abkühlung

Wasserfall am Hahnenbach.Kurz hinter Bergen tauchen wir ein in das Naturschutzgebiet Trübenbachtal. Der schattige Wald bringt die heiß ersehnte Abkühlung. Noch rund 3 Kilometer lassen wir uns entspannt vom Hahnenbach nach Kirn führen.

Sogar ein kleiner Wasserfall schmückt den Weg. Die Beschilderung dünnt sich etwas aus, die GPS-Daten in MAPS.ME helfen.

Vom Abstecher zur Ruine der Kyrburg oberhalb von Kirn kann ich wenig berichten. Aber vielleicht nimmt auch der Muskelkater jetzt einfach überhand und die Begeisterung für die zahlreichen Zeugen des Mittelalters hat kein Durchkommen mehr.

Keine zusätzlichen Kilometer

Ausblick auf Kirn.Der Marktplatz in Kirn wirkt eigentümlich belebt nach den ausgestorbenen Ortschaften auf der Strecke. Allein die Restaurants machen um 15 Uhr alle Siesta. Eine Döner-Bude bietet Pizza, Nudeln und ein Curry. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt!

Meine Begleitung fährt mit dem Taxi ins ansonsten schwer erreichbare Herrstein zurück und lässt mich an meiner Pension am Ortsrand raus. Da sage ich nicht „Nein!“. Ein zusätzlicher Kilometer abseits der Wegstrecke in unattraktivem Gelände muss nicht wirklich sein, raten meine Beine.

Kaum eine Stunde später geht das angekündigte Gewitter mit ordentlichem Regenguss darnieder. Exzellentes Timing. Ein hübscher warmer Tee und die müden Gräten ausstrecken. Morgen ist ein neuer Tag!

Etappe 2 geht oft am Waldrand entlang.

Bilanz:

  • Knapp 16 km Pilgerweg (plus 1.5 für uns durch unsachgemäße Schildbetrachtung)
  • Sehr sonnig
  • Für Liebhaber von Feld, Flur und Weite
  • Abwechslungsreiche Wanderung auf breiten Wegen mit recht großem Asphaltanteil
  • Möglichkeit zur Erfrischung am offenen Kühlschrank mit Selbstbedienung an der Hildegardstation in Bergen

Persönliche Errungenschaften:

  • Gesteigerte Morgensteifigkeit
  • Rasende Reporterin jetzt auch auf Deutschland’s Dorfstraßen
  • Sonnenbrand an den Knien
  • Leichte Magenverstimmung nach fragwürdigem „Curry“ aus der Döner-Bude
  • Ordentlicher Muskelkater in den Beinen

Mein Blog läuft mit viel grünem Tee

Wenn Dir der Bericht gefallen hat, spendier mir doch eine Tasse.
Bei Klick auf das Symbol wirst Du zu PayPal weitergeleitet.




One Comment

  • Michaela

    Hallo liebe Simone,
    wieder mal toll geschrieben. Ja, so war’s ??. Danke, dass Du mich mitgenommen hast, ich fand’s wunderschön. Statt leichte Magenverstimmung habe ich eine leicht verbrannte Zunge ?.
    Ich wünsche Dir heute einen tollen Tag und heute Abend gutes WiFi.
    Schade, dass ich nicht den ganzen Weg mit Dir gehen kann, doch schon der Tag gestern war absolut toll.
    Ganz liebe Grüße, Michaela

Leave a Reply

Your email address will not be published.