Flugbegleiterin im Reinraumanzug.
Vietnam

Reisefieber in Zeiten von Corona

Kaum stehen die Taschen und Koffer im Foyer des Hotels, kommt ein Mann mit Mundschutz und Pestizidzerstäuber auf dem Rücken und desinfiziert großzügig unsere gesamte Reiseausrüstung. Während mein Gehirn noch versucht, die Science-Fiction-Szene in unsere aktuelle Urlaubsrealität einzuordnen, deuten die Empfangsdamen mit vietnamesischer Höflichkeit und leicht geneigtem Kopf auf den Pumpspender mit Desinfektionsgel am Eingang hin.

Der surreale Eindruck wird eigentlich nur noch übertroffen vom Auftritt der Stewardessen auf dem Flug Hanoi-Frankfurt wenige Tage später: Die Flugbegleiter von Vietnam Airlines bedienen im Reinraumanzug. Volle Montur mit Haube, Schutzbrille, Handschuhen, Schuhüberziehern und natürlich Atemschutzmaske.

Atemberaubende Geschwindigkeit

So kann es aussehen: Wandern im Bergland von Vietnam.
So kann es aussehen: Wandern im Bergland von Vietnam.

Es ist der 16. März 2020. Wir spielen Rundreise in Zeiten von Corona. In atemberaubender Geschwindigkeit hat sich das nette Projekt „Wandern im Bergland von Vietnam“ von einer Reihe heiterer Spaziergänge mit ungezwungenem Kontakt zur heimischen Landbevölkerung zu einer Maßnahme städtischer Isolation mit Chlorgeruch entwickelt.

An der Rezeption in Hoi An erhalten wir Zimmerschlüssel, die tagsüber in einer desinfizierenden Lauge einweichen. Die Atemschutzmaske der Dame hinterm Tresen bewegt sich ein paar Millimeter mit den Ohren nach oben, als sie vermutlich zaghaft grinst. Es ist wie gesagt der 16. März. Deutschland überlegt zu diesem Zeitpunkt noch, was wohl am besten zu tun sei.

Krankenhaus-Aroma auf dem Hotelflur

Die Gänge des vietnamesischen Hotels in der schmucken Welterbestadt Hoi An verbreiten Krankenhaus-Aroma. Unabhängig was man davon und allen anderen Maßnahmen im Land halten mag – wir sind erstmal froh, dass wir überhaupt noch außerhalb einer Quarantänestation unterkommen dürfen. An jedem der vergangenen fünf Tage haben sich unsere Möglichkeiten im “Land der Drachen und Pagoden” weiter eingeschränkt.

Erst war ein Restaurant geschlossen, weil dort der Fahrer von zwei vermeintlich infizierten Engländern ein Mittagessen eingenommen hatte. Alleine. Die Engländer waren schon über alle Berge… Dann hörten wir von ersten Hotelschließungen in Folge der Übernachtung von Gästen, die im selben Flugzeug waren wie eine Person, die danach positiv getestet wurde. Es folgte die Abriegelung ganzer Straßenzüge und Gegenden für Touristen. Denn es sind in jenen ersten Tagen des Virus in Vietnam vor allem Touristen, die für eine weitere Ausbreitung im Land verantwortlich gemacht werden.

Ein diesiger Tag im Frühling

Straßenszene in Hanoi vor dem großen Lockdown.
Straßenszene in Hanoi vor dem großen Lockdown.

Aber von Anfang an: Es ist ein diesiger Frühlingstag, als meine Reisegruppe früh am 7. März in der 7-Millionen-Einwohner Stadt Hanoi landet. Sie müssen eine Gesundheitserklärung ausfüllen und werden automatisch auf Fieber gemessen.

Deutschland’s Fallzahlen haben sich laut Statistik des Robert-Koch-Institutes in der Nacht des Fluges von 639 auf 795 hoch gearbeitet. Vietnam dagegen zählt ganz stolz bereits 22 Tage in Folge nur 16 Erkrankte – mittlerweile alle als geheilt aus dem Krankenhaus entlassen.

Doch niemand hat mit der 26-jährigen Vietnamesin gerechnet, die Anfang März nach dem Besuch von Familienmitgliedern in London, Mailand und Paris per Business Class in ihre Heimat zurückgeflogen kommt und als Patientin Nr. 17 traurige Berühmtheit erlangt. Sie steckt nicht nur ihren persönlichen Chaffeur und ihre Tante an (Patienten Nr. 19 und 20), sondern potenziell auch 21 weitere Passagiere in der Business Class des Fluges.

Die vietnamesische Presse berichtet ganz detailliert über jeden einzelnen Fall. Datenschutz außen vor lernt man auf diese Weise recht viel über die Lebensbedingungen einer Gesellschaftsschicht, die im Reiseführer sonst nicht vorkommt.

Aus der Traum von der kontrollierten Pandemie

Truc Bach Street on isolation days by Dang Truong Giang.
Truc Bach Street on isolation days by Dang Truong Giang.

Es ist genau der 7. März, der Start unserer Rundreise, als die junge Frau aus wohlhabenden Verhältnissen den vietnamesischen Traum einer Epidemie unter Kontrolle beendet. Mit Husten und leichtem Fieber wird sie positiv auf Covid-19 getestet.

Familienmitglieder und 5 Angestellte ihres Haushaltes in Hanoi kommen sogleich auf Isolierstationen im Krankenhaus der Stadt. Die Straße zum Haus wird abgeriegelt und mit Desinfektionsmitteln abgesprüht. Alle Doktoren, die mit Patientin Nr. 17 Kontakt hatten, werden unter Quarantäne gestellt. Und auch ihre Nachbarn sind aufgefordert, bis auf Weiteres zu Hause zu bleiben.

Ausgeklügeltes Informationssystem

Was dem ungeübten Betrachter zunächst wie eine außergewöhnliche und etwas extreme Maßnahme erscheint, wird bald zum Alltag in unserem Reiseland. Vietnam ist ein sozialistischer Einparteienstaat, der wenig Mühe hat, seine Empfehlungen und Vorschriften durchzusetzen. Unter anderem das exzellente Informationsnetz trägt klar dazu bei.

Auf unseren ersten Wanderungen im Norden sehen wir selbst im entlegensten Dorf Plakate mit Gesundheitshinweisen. Die übliche Corona-Aufklärung – Händewaschen, nicht ins Gesicht fassen, in die Armbeuge husten, etc. – hängen hier schön bunt und mit vielen Piktogrammen.

Einen Song mit animiertem Video des Gesundheitsministeriums gibt es zu diesem Zeitpunkt auch schon, inklusive „Tiktok Dance Challenge“, bei dem die Bevölkerung die neue Routine zum Händewaschen mit einfachen Tanzschritten kombiniert. Ein Hit, der sich sogleich viral im Internet verbreitet.

Ein unbehagliches Gefühl

Wer keinen Zugang zu Medien hat oder die allgegenwärtigen Plakate übersieht, erhält die Neuigkeiten und Verhaltensregeln zweimal am Tag via öffentlicher Durchsage frei Haus. Gleich morgens um 6 Uhr und dann noch einmal abends um 17:30 Uhr knarzen die Lautsprecher ganzjährig mit erbaulicher Musik, örtlichen Nachrichten und Verlautbarungen der Partei. Jeweils eine volle Stunde.

So wissen denn auch die einfachen Marktfrauen in Bac Ha, dass es irgendwelche Ausländer waren, die das Virus vor zwei bis drei Tagen erstmals in den hohen Norden brachten. Nämlich ein paar der Engländer, die Business Class geflogen waren mit Patientin Nr. 17. Dass wir keine Engländer sind und aufgrund unserer persönlichen und Reise-Historie mit 99-prozentiger Wahrscheinlichkeit ungefährlich, ist natürlich von außen nicht erkennbar.

Die einheimischen Frauen wenden sich ab, wenn wir vorbeigehen, ziehen ihre Masken ins Gesicht und scheuchen uns mit hektischen Gesten an ihren Ständen vorbei. Ein Mann grüßt uns mit „Hello, Corona!“ So müssen sich vielleicht Aussätzige fühlen? Oder ethnische Minderheiten, die in einem Land nicht willkommen sind. Unbehaglich. Unwohl. Ausgegrenzt.

Unberührte Natur

Bad im Wasserbüffelparadies.
Bad im Wasserbüffelparadies.

Die ersten langen Wanderungen verbinden uns mit der Natur und der atemberaubenden Schönheit der Kulturlandschaft. Sanfte Hügel im Wechsel mit zackigen Berggipfeln. Reisterrassen, so meisterlich angelegt, dass man Architektenpreise dafür vergeben möchte. Wasserbüffel grasen neben Feldarbeitern mit Kegelhüten. Bäume explodieren in frühlingshafter Blütenpracht.

Wir fallen aus der irritierenden Nachrichtenflut der „wirklichen Welt“ in die beruhigende Atmosphäre einer Postkartenidylle. Ganze drei Tage geht das gut, dann erfahren wir auf dem Weg in die Wanderhochburg Sapa, dass die Armee ALLE Dörfer rund um das Zentrum des vietnamesischen Bergtourismus abgesperrt hat.

“Wir dürfen hier heute nicht wandern”, flüstert mir mein einheimischer Kollege Hien mit sichtlicher Nervosität im Reisebus zu. “Nirgendwo.” 30 Minuten vor Erreichen des Ziels lässt diese Information nicht viel Spielraum für die Gestaltung des Tages.

Allein auf dem Dach Indochinas

Mit der Gondel auf das Dach von Indochina.
Mit der Gondel auf das Dach von Indochina.

Aber glücklicherweise sind die Gondeln auf Vietnams höchsten Berg Fansipan noch geöffnet und so genießt die Reisegruppe eben eine Exkursion der etwas anderen Art: Mit der längsten Non-Stop-3-Seil-Gondel auf das Dach von Indochina mit seinen spektakulären Aussichten ist sicher nicht der schlechteste Zeitvertreib. Plus sie hatten den 3.143 Meter hohen Gipfel quasi für sich alleine.

Ein Erlebnis, das die gesamte Reise prägt: Sapa wirkt wie ausgestorben. Auch wenn die Hotels nach ausgiebiger Desinfektion und mehrtägiger Quarantäne aller Mitarbeiter in Folge des Besuchs der mittlerweile bekannten Engländer nun größtenteils wieder geöffnet sind, die Zahl der Touristen ist weit entfernt von den sonst üblichen Strömen in der Hauptsaison.

Der glorreiche Start liegt lange zurück

Der Literaturtempel - die erste Universität Vietnams aus dem 11. Jh. - nur für uns.
Der Literaturtempel – die erste Universität Vietnams aus dem 11. Jh. – nur für uns.

Schon in Hanoi bescherte uns dieser Umstand einen überaus erquicklichen Bummel durch den sonst quälend vollen Literaturtempel und eine vollkommen ungewollte Audienz beim Landesvater höchstselbst!

Erinnerungen an den glorreichen Start unserer Rundreise in Hanoi: Eigentlich wollten wir nur über den großen Paradeplatz spazieren, Präsidentenpalast, Museum und Mausoleum von Ho Chi Minh von außen betrachten. Unendliche Schlangen aus vorwiegend asiatischen und einheimischen Touristen haben in den vergangenen 10 Jahren jeden Gedanken an eine Visite im Innern des Grabes vollkommen absurd erscheinen lassen. Bis zu drei Stunden Wartezeit für einen 90-Sekunden Salut ist das Standard-Programm.

Modische Moped-Accessoires, nun auch für uns

Seit vielen Jahren Standard in asiatischen Großstädten: die modische Atemschutzmaske gegen Feinstaub.
Seit vielen Jahren Standard in asiatischen Großstädten: die modische Atemschutzmaske gegen Feinstaub.

Doch dieses Mal ist alles anders. Nicht nur, dass die sonst offenen Zugänge zum Paradeplatz verschlossen sind. Am einzig möglichen Eingang werden wir aufgefordert, einen Mundschutz anzulegen. Um über einen Platz und durch einen Park zu laufen? Erläuterungen gibt es nicht.

Schnell besorgt unser lokaler Guide Hien eines der modisch schicken Mopedfahrer-Accessoires für jeden von uns. Wir bekommen zwar keine Luft damit, aber jetzt sind wir endlich komplett ausgestattet für die asiatische Großstadt.

Immer noch in der Annahme, dass wir nur für den Platz und die Außenaufnahmen hier sind, lassen wir uns zügig entlang der markierten Wege Richtung Mausoleum lotsen. Schön in Zweierreihen ist die Anweisung auf einem gespenstisch leeren Gelände.

Audienz aus Versehen

Und schwupps stehen wir am Eingang des Allerheiligsten des sozialistischen Vietnams. Einmal links die Treppe hoch und schnell noch einen für Grabmäler angemessenen Geisteszustand herstellen, und schon geht es in gleichmäßigem Schritt um den gläsernen Sarg herum. Wir dürfen nicht stehen bleiben und keine Fotos machen.

„Aber warum müssen wir eine Atemmaske tragen?“, fragen meine Gäste. Na, damit Onkel Ho kein Covid 19 kriegt auf seine alten Tage, witzeln wir gemeinsam. Noch haben wir gut lachen. Das war auch erst der zweite Tag unserer Rundreise.

Das echte Highlight ist nun geschlossen

Halongbucht. Ein Bild aus früheren Tagen.
Halongbucht. Ein Bild aus früheren Tagen.

Beim Abendessen in Sapa nur vier Tage später lacht keiner mehr. Die Halong-Bucht, die Traumdestination aller europäischen Touristen, ist geschlossen. Für mindestens zwei Wochen. Unsere Rundreise dauert laut Plan ab heute noch 13 Tage. „Bist Du ganz sicher?“, frage ich meine Agentin Thuy in Hanoi ungläubig, als sie die Nachricht überbringt.

„Wir sind doch erst zum Abschluss der Rundreise dort. Gibt es nicht vielleicht Chancen, dass sie bis dahin wieder aufmachen? Andere Sehenswürdigkeiten oder Hotels haben doch auch wieder geöffnet, nachdem sie komplett desinfiziert und abgesichert wurden. Es gibt doch sooo viele Boote für die Bucht. Warum müssen die denn alle pausieren?“

Alternativen müssen her!

Thuy teilt meine Beklommenheit. Wir wissen beide, dass diese Nachricht für unsere Gäste schlimmer wiegt als anderen Reisebeschränkungen en route. Die Audienz bei Onkel Ho, sicherlich der Höhepunkt des Vietnam-Besuchs so manches Asiaten, kann dies für uns nicht ausgleichen. Aber nichts zu machen. „99% nicht“, beantwortet sie meine Frage auf einen möglichen Gesinnungswandel bei den vietnamesischen Behörden.

Mit emsiger Kreativität entwickeln wir ein alternatives Programm für die nun frei gewordenen zwei Tage. „Wir bleiben einfach länger in der trockenen Halongbucht! Das ist die nächstbeste Lösung“, rufe ich begeistert. „Und da hat es doch diese fantastischen Höhlentempel, für die wir sonst nie Zeit haben.“ Ich erwärme mich für die unerwartete Programmbereicherung und plane in stundenlanger WhatsApp- und Skype-Konferenz mit Thuy den neuen Reiseablauf.

Die Gäste trauern. Die Enttäuschung ist groß. Die meisten haben die Reise gerade wegen der Halongbucht gebucht. Aber sie tragen es mit Fassung. Was bleibt auch sonst?

Zum Schutz der Bevölkerung

Bild zum Bericht von Patientin Nr. 44. Quelle: VNExpress
Bild zum Bericht von Patientin Nr. 44. Quelle: VNExpress

Zwei Tage Halongbucht-Kreuzfahrt und zwei Nächte in so genannten Homestays – ursprünglich, volksnah und originell – ist das, was unsere Rundreise auszeichnet und von vergleichbaren Angeboten auf dem Markt unterscheidet. „Die lokalen Behörden haben mit Wirkung von heute untersagt, dass Touristen in Homestays übernachten“, ist Thuys Mitteilung am Folgetag. Oke?! Oke.

Präventive Maßnahmen zum Schutz der lokalen Bevölkerung, heißt es. Die Covid-Rate in Vietnam ist seit unserer Ankunft auf 44 gestiegen. In der Presse gibt es wieder detaillierte Angaben zur Genese jedes einzelnen Falles. Die neuesten fünf Infizierten leben in Zentral-Vietnam. Eine 51-jährige Geschäftsfrau war im Februar nach Washington DC geflogen und kam infiziert zurück. Die restlichen Zahlen in der Statistik sind ihrer Familie, Haushaltshilfe und Angestellten zuzurechnen.

Es gibt keine Fälle dort, wo wir unterwegs sind. Und so soll es auch bleiben, beschließen die Sicherheitsbehörden der Region. Deutschlands Statistik kommt mittlerweile auf insgesamt 2.369.

Sichere Distanz, Bedauern im Blick

Perfekt manikürte Reisterrassen bei Mu Cang Chai.
Perfekt manikürte Reisterrassen bei Mu Cang Chai.

Sichtlich verunsichert, aber auch mit herzlichem Bedauern im Blick, empfängt uns am nächsten Tag der Gastgeber unseres Homestays auf sichere Distanz. Bedacht führt er uns durch die unvergleichlichen Reisterrassen seines Heimatortes. So sehen wir das traditionelle Holzhaus, das unsere Unterkunft hätte sein sollen, zumindest von außen. Und wir haben die Gelegenheit, den älteren Mann ein klein wenig finanziell zu unterstützen. Er wie Tausende andere, die mit den Touristen im Norden ihren Lebensunterhalt bestreiten, wird lange keine Einnahmen mehr verzeichnen.

Es ist der 13. März. 3.062 Fälle in Deutschland. 47 in Vietnam. Die Nachrichtenlage galoppiert. Der normale menschliche Verstand kommt bei der Eskalation schon lange nicht mehr mit. Menschen überall auf dem Planeten begreifen nur langsam, was die Worte „exponentielle Ausbreitung“ eigentlich bedeuten. Die abstrakte Gefahr wird vielerorts zu einer Realität. In Vietnam vor allem in Form von Vorsichtsmaßnahmen.

„Weiter schlechte Nachrichten“

„Es geht leider weiter mit den schlechten Nachrichten”, schreibt Thuy am Folgetag. Wir sind nun schon acht Tage unterwegs. Gezählt in Krisenmanagementstunden fühlt es sich allerdings an wie 20 Tage. Es muss auf der Fahrt nach Sapa gewesen sein, dass ich in der Reiseleiterrolle von lustiger Entertainerin und fürsorglicher Hirtin mehr auf autoritäre Führungskraft und einsame Entscheiderin umgeschaltet habe. „Reiseleitung ist keine Demokratie“, sagte einmal ein Kollege zu mir. In Zeiten wie diesen stimme ich dem zu.

„Die lokalen Behörden haben angeordnet, dass nun auch ganz Mai Châu und Tam Coc für Touristen geschlossen werden“, lässt Thuy mich wissen. Oke. Das sind die beiden Regionen, die wir vor der Halongbucht besuchen wollten. Und das war auch unser mühsam ausgearbeitetes (und nun bereits reserviertes) Alternativprogramm. Geplante Ankunftszeit: Übermorgen. Noch zweimal schlafen. Es ist 21 Uhr Ortszeit.

WhatsApp-Standleitung in der Krisenkommunikation.
WhatsApp-Standleitung in der Krisenkommunikation.

Wochenende in Deutschland – oder nicht?

Samstagabend in Vietnam. Mein Reiseveranstalter in Deutschland ist offiziell im Wochenende. Oke. Ruhig überlegen. Heute Nacht ist gesichert. „Steht unser Hotel für morgen noch?“ frage ich Thuy. „Ja, morgen ist noch möglich. Aber danach weiß ich nicht mehr weiter. Der ganze Norden ist dicht. Selbst unser übliches Hotel in Hanoi hat zugemacht.“ Wow. Selbst unser Hotel in Hanoi. Das ist mal schnell eskaliert.

Fiebermessen beim Einchecken ins Hotel in Tú Lệ.
Fiebermessen beim Einchecken ins Hotel in Tú Lệ.

Vietnam zählt 56 Fälle an diesem Tag. Die Kontrolle aller Infizierten und deren Kontaktpersonen ist peinlich genau. Bereits jetzt entscheiden sich die Städter prophylaktisch zuhause zu bleiben, wenn sie auch nur Kontakt hatten zu einer Kontaktperson, hebt die internationale Online-Zeitung „VNExpress“ hervor.

Engmaschige Kontrolle wird nun auch immer mehr Bestandteil unseres Alltags. Bereits beim Besuch des viel frequentierten Wasserpuppentheaters in Hanoi am 8. März hatten die Ticketabreißer am Eingang unsere Körpertemperatur gemessen. Nun gehört dies offenbar zur Routine beim Einchecken im Hotel.

Noch auf dem Parkplatz des brandneuen 4-Sterne-Hotels in Tú Lệ, das wir zum Trost für den Verlust der Halongbucht zwischengeschoben hatten, testet das Sicherheitspersonal auf Fieber. Nicht ohne vielfache Entschuldigung. Aber in einem Fall, der nach erhitzter Wanderung über 37 Grad aufwies, auch gerne zweimal. Beim Abendessen dürfen wir erneut eine Gesundheitserklärung ausfüllen. Wir kommen gefühlt ans Ende der Fahnenstange mit unserer Rundreise.

Anruf in München – die Drähte glühen

Hanoi in besseren Tagen. Touristen nicht aus meiner Gruppe.
Hanoi in besseren Tagen. Touristen nicht aus meiner Gruppe.

Ich rufe das Notfalltelefon meines Reiseveranstalters an. Eine Nummer, die ich noch selten vorher gewählt habe. Aber am Montag, also in zwei Nächten, werden wir keine Hotels mehr haben und keine Aktivitäten, die wir der Kundschaft noch anbieten könnte. Vielleicht ein alternatives Hotel in Hanoi… Aber sechs Nächte in einer asiatischen Mega-Stadt mit schlimmer Luftverschmutzung, in der alles, was attraktiv sein könnte, geschlossen hat? Mit einer Wandergruppe?!

Das Notfalltelefon ist überlastet. Aus aller Welt wollen und müssen die Gäste nun zurück nach Deutschland. Ich bekomme die Nummer unseres Chefs und weiß wieder einmal mehr, warum ich für diese Firma arbeite. Alle packen an diesem Wochenende mit an. Alle sind im „Notrettung am Berg“-Modus.

Was tun? Sicherheit geht vor!

Was machen wir? Früher zurück? Ab wann ist das überhaupt möglich? Was sind die Alternativen? Gemeinsam überlegen wir, was wir den Gästen noch bieten können. Was den Virus betrifft, erscheint das Land ja durchaus sicher. Sicherer vielleicht als Deutschland, das in diesem Tag 3.795 Fälle meldet. 56 und bereits ziemlich flächendeckender Shutdown hält Vietnam dagegen. Schulen und Universitäten hatten hier bereits direkt nach den Chinesischen Neujahrsferien im Januar geschlossen. Ebenso wie die Grenzen nach China.

Mein neues persönliches Motto: Unter meiner Führung sollte 1. keiner krank werden und 2. keiner in einer vietnamesischen Quarantäne enden. Insbesondere nicht auf dem Land, wo selbst die Ärzte kein Englisch reden. Landkrankenhaus und Armee-Camp zur Isolierung machen in der Berichterstattung zwar einen soliden, aber dennoch nicht wünschenswerten Eindruck aus der Perspektive des durchschnittlichen deutschen Urlaubers.

Doch noch Urlaub am tropischen Strand

Malerische Altstadt ganz nach europäischem Geschmack.
Malerische Altstadt ganz nach europäischem Geschmack.

Die Flugabteilung arbeitet auf Hochtouren. „Wir melden uns wieder, wenn wir unsere Möglichkeiten kennen“, sagt der Chef. Ich diskutiere derweil die Optionen mit der Agentur. Thuy schlägt einen Inlandsflug nach Zentralvietnam vor. Durch die pittoreske Altstadt von Hoi An kann man immer noch spazieren. Und es ist nicht weit weg vom frei zugänglichen Strand. Tropisches Klima. Sonne. Urlaubsatmosphäre?

Ein zusätzlicher Inlandsflug in dieser Situation… Die Idee schmeckt mir nicht wirklich. Wir entfernen uns damit weiter weg vom Flughafen, über den wir irgendwann das Land verlassen wollen.

„Was würden wir denn in Hanoi machen können, wenn wir nun direkt dorthin fahren?“ frage ich hoffnungsvoll. „Im Hotel bleiben“, lautet die Antwort. 6 Tage im Hotel. Nun ja. Eher nicht. Auch wenn ich Krisenmanagement nicht schlimm finde, den psychologischen Aspekt in der Gruppendynamik möchte ich lieber nicht ausreizen…

Wir können früher nach Hause

Die Flugabteilung hat einen Rückflug für die Gruppe gefunden: Donnerstagabend statt Samstagabend. Früheste Möglichkeit. Letztes Hotel im Norden haben wir bis Montag. Bleiben drei Nächte. „Lass uns Hoi An probieren“, beschließen wir. Es ist der beste Kompromiss aus dem, was noch geht und dem was sicher erscheint.

Immerhin ist Hoi An auch eine Stadt mit internationalem Publikum und entsprechender Gesundheitsversorgung. Und besser als Hanoi, was den Wohlfühlfaktor betrifft. „Eine Stadt wie eine Kuschelecke“, lautet der Titel eines Reiseberichtes in einer deutschen Zeitung. Na also.

Und was ist mit mir?

Selbstportrait in besonderen Zeiten.
Selbstportrait in besonderen Zeiten.

„Willst Du mit zurück nach Deutschland?“, reißt mich mein Chef aus meinen Gedanken, die sofort um mögliche Besichtigungen und Aktivitäten am neuen Zielort kreisen. „Wer? Ich? Was? Warum?“ An mich hatte ich nun wirklich nicht gedacht in diesem ganzen Szenario. Ich bin doch dann im Dschungel von Süd-Thailand und unterrichte Yoga in einem Charity Ressort nahe der burmesischen Grenze.

In unendlicher Zeitlupe dämmert mir, dass dies vermutlich nicht der Fall sein wird. Aber für längere Erwägungen in diesem Zusammenhang ist jetzt leider keine Zeit. „Nein“, sage ich zu ihm. „Meine Situation ist im Moment nicht klar genug.“

Na dann, gute Nacht!

Keine Stunde später habe ich die neuen Tickets für die Gäste und einen Anruf von unserer Niederlassung in der Schweiz, die sich um meine Reiseteilnehmerin aus Bern sorgt. Infos und Vorschläge für ihr weiteres Vorgehen fließen in mein Notizbuch.

Na dann, gute Nacht! Mit hoffentlichen fruchtbaren Eingebungen, wie ich diese neuerliche Hiobsbotschaft an die Gäste kommuniziere, und was ich wohl mit meinem weiteren Leben anfange…

Ab ins Armee-Camp

Essensverteilung in einem Armee-Camp in Vietnam. Quelle: VNExpress
Essensverteilung in einem Armee-Camp in Vietnam. Quelle: VNExpress

Auf der Fahrt zum Flughafen für den Inlandsflug ziehen mein einheimischer Kollege und ich unerschrocken unser übliches Programm durch. Fotostopp in der Teeplantage, Verkostung von frischer Kokosnuss und Zuckerrohrsaft, ausgedehnte Vorlesung im Bus und nicht zu vergessen ein leckeres Mittagessen in Hanoi.

Der Abschied von Hien, dem quirligen und immer positiven jungen Mann an meiner Seite, kommt viel zu schnell. „Was passiert jetzt mit Dir?“ frage ich. Er hat gerade Nachricht erhalten, sagt er. Er müsse nun für zwei Wochen ins Armee-Camp zur Quarantäne. Weil er mit uns unterwegs war. Er darf nicht nach Hause zu seiner Familie, um sich dort zu isolieren. Da gibt es kein Pardon. 11 Tage mit Touristen unterwegs = Hochrisikogruppe.

Puppenstubenstadt Hoi An

Landpartie mit Rad und Boot rund um Hoi An.
Landpartie mit Rad und Boot rund um Hoi An.

Hoi An hält, was es verspricht: eine entzückende Altstadt ganz nach europäischem Geschmack mit viel Potenzial für individuelle Entdeckungen. Und vollkommen Touristenfrei! Zwar sind die Tempel und Altstadthäuser geschlossen und auch nicht alle Restaurants geöffnet. Aber es reicht für eine ganze Reihe Instagram-verdächtiger Außenaufnahmen und ein paar letzte Kostproben exzellenter vietnamesischer Küche. Und eine zünftige Tour mit Rad und Boot über’s Land lässt uns noch einmal kurz vergessen, was sonst gerade überall auf der Welt so los ist.

Doch die Unruhe wächst bei allen und der frühere Rückflug ist durchaus willkommen. Wäre da nicht der lokale Zubringerflug, dann könnte man sicher noch besser entspannen in den letzten Stunden…

Letzte Zuckungen auf der Zielgeraden

Ich schlafe immer weniger und organisiere immer mehr. Akut nun erst einmal die Ad hoc-Sightseeing-Tour in nicht geplanter Destination. Was ich schon immer einmal in zwei Stunden über Hoi An lernen wollte!

Doch mehr noch hält mich die Frage der vermaledeiten Flüge auf Trab. 24 Stunden vor der geplanten Rückreise nach Hanoi sagt Vietnam Airlines unseren Inlandsflug ab. Wir können noch auf die Abendmaschine. Mit 4.5 Stunden Puffer zur Langstrecke. Das reicht unter normalen Umständen. Reicht es aber für die zunehmend blank liegenden Nerven in der Reisegruppe?

Komplexe Koordination

Anzeigetafel am Flughafen, 20.3.2020: Gelb steht für "cancelled".
Anzeigetafel am Flughafen, 20.3.2020: Gelb steht für “cancelled”.

Und reicht es für mich? Nur wenige Stunden vorher hatte ich schweren Herzens meine Thailand-Pläne auf die nächste Saison verschoben und einen Flug mit Turkish Airlines über Istanbul nach Deutschland buchen lassen. Der letzte bezahlbare Shuttle nach Europa in der näheren Zukunft. Zeitlich allerdings 3 Stunden vor dem Rückflug der Gäste.

Dann lasse ich diesen Flug halt sausen, denke ich noch. Die Gäste können sicher nicht alleine durch diese Transfers. Doch im vorauseilenden Gehorsam hat mich die Agentur mit der Schweizerin auf einen Morgenflug gesetzt, bei dem nur noch zwei Plätze frei waren und den Rest der Truppe 7 Stunden später auf den Abendflug.

Diverse Schweißausbrüche und viel Diskussion später belassen wir es dabei. Wir erhalten zusätzliche lokale Guides für die Flughafentransfers und ich darf weiter hoffen, das Turkish Airlines mich nach Europa bringt. Auf den 20. März ist mein Flug von Istanbul nach Frankfurt datiert. Am 21. März heißt es, stellt die Airline alle Flüge nach Deutschland ein.

„Das klappt schon!“

Meine Flugabteilung ist sich sicher: „Das klappt schon“. „Die Maschinen sind so voll mit Heimkehrern. Das sagen die nicht ab.“

Eine Einstellung, die ich nun auch an die Gäste zu vermitteln suche. Der gecancellte Inlandsflug war diesbezüglich keine vertrauensbildende Maßnahme. Doch nach offiziellen Angaben will Vietnam Airlines noch bis zum 25.3. vereinzelt nach Europa fliegen.

Ein beruhigendes Gefühl

Henkersmahlzeit im Flughafenrestaurant in Hanoi.
Henkersmahlzeit im Flughafenrestaurant in Hanoi.

Am Rückflugtag betäube ich die Unruhe während der stundenlangen Wartezeit zwischen den diversen Flügen am Nội Bài International Airport in Hanoi mit exorbitanten Mengen von vegetarischen Frühlingsrollen und Passionsfruchtsaft. Jeder, wie er kann…

Gegen 20:45 Uhr stehen wir alle wieder vereint am Gate: Alle mit Bordkarten für ihre jeweiligen Flüge in der Hand, alle Koffer durchgecheckt, Atemmasken im Anschlag. Thuy und ich haben unseren letzten WhatsApp-Austausch – voller Glück und Erleichterung. Auch wenn Plan B, C und D nicht geklappt haben, am Ende ist doch alles gut!

Stunden später und in einer ganz anderen Welt treffen die Nachrichten aller Heimkehrer ein: „Wir sind daheim und es ist doch ein beruhigendes Gefühl.“ Und: „Das Bordpersonal in Schutzkleidung wird auch in Erinnerung bleiben.“ 13.957 Fälle hat Deutschland am Tag unserer Rückkehr. Vietnam berichtet von 91, darunter ein Pilot von Vietnam Airlines. Ab dem 21. März müssen alle Reisenden, die nach Vietnam kommen, automatisch für 14 Tage in Quarantäne.

Selbstquarantäne mit grünen Smoothies

Ordnungsgemäß verabschiede auch ich mich nach getaner Arbeit in eine zwei-wöchige Selbstquarantäne. Sicherlich zu deutlich besseren Bedingungen als mein Kollege, der auf Rückfrage bestätigt, dass er immer noch im Armee-Camp residiert, während ich überlege, welchen grünen Smoothie ich wohl zwischen meinen drei Hauptmahlzeiten noch schlemmen möchte. Alles zur Stärkung des Immunsystems versteht sich.

Wie es weitergeht für uns beide und viele andere Kollegen, Unternehmen der Touristik und der ganzen Welt weiß keiner. Einstweilen übe ich mich im Schreiben und biete Online-Yoga-Klassen an. Tätigkeiten, die selbst nach vietnamesischen Maßstäben unbedenklich sein sollten.

Also: Ruft an, wenn Ihr Unterstützung bei dem einen oder anderen braucht.


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