Thailand

Von Vegetariern und mutigen Gesichtspiercings

Die erste Nadel kommt

Der Blick ist dezent irre. In Trance wackelt der junge Chinese leicht mit dem Kopf hin und her. Und sein Gang ist etwas zittrig. Seine Freunde geleiten ihn zu einer Stelle inmitten des Tempfelhofs und holen einen Stuhl, einen von diesen hübschen thailändischen Plastikstühlen. Schnell ist er umringt von einem Dutzend Zuschauer mit ebensovielen Kameras. Alle wollen sie sehen, wie sich die Nadeln durch sein Gesicht bohren. Es ist 6:30 Uhr am Morgen in Phuket Town. Ich hatte noch kein Frühstück. Vielleicht besser so.

Das “Vegetarian Festival” oder auch “Nine Emperor Gods Festival”, zu dem ich an diesem Wochenende eigens (und erstmals) nach Phuket gereist bin, markiert den Beginn der taoistischen Fastenzeit. Es findet jedes Jahr an den ersten neun Tagen des neunten Monats im chinesichen Mondkalender statt. Zu deutsch: Ende September, Anfang Oktober. Es ist ein Fest der chinesischen Einwanderer in Südostasien und wird vornehmlich in Ländern wie Myanmar, Singapur, Malaysia und eben Thailand begangen.

Kein Fleisch, kein Alkohol, kein Sex

Familien-Altar mit Opfergaben und 9 Teetassen

Ta, eine meiner Lieblings-Köchinnen, war die erste, die mir davon erzählte. Mit strahlenden Augen berichtete sie von ihren Urlaubsplänen: Sie werde die ganze Wohnung säubern, vor allem aber alle Spuren von Fleisch, Geflügel oder Fisch aus der Küche entfernen. “Und ab Dienstag essen wir dann nur noch vegetarisch, trinken keinen Alkohol und schlafen getrennt – für neunTage”, schwärmt die Mutter von drei Kindern. Eine Reinigungs- und Entschlackungskur für die ganze Familie sozusagen. Äußeres Symbol für die Reinigung ist das Tragen weißer Kleidung.

Diese Tradition wird bei chinesischen Einwanderern taoistischen Glaubens in ganz Thailand hochgehalten und äußert sich unter anderem in je einem vegetarischen Gericht in der Hotel-Kantine. Eine nette Geste, die für  “Strenggläubige” aber eher nicht ausreichend ist. Denn tatsächlich genügt nur Essen, das in der geweihten Tempelküche unter Beachtung verschiedener Rituale zubereitet wurde, den Anforderungen der Reinigungszeit. Man sieht dieser Tage daher vielerlei bunt geschmückte Essenszelte rund um die chinesichen Tempel des Landes. Und manche Kollegen nehmen eben Urlaub, um sich voll der Fastenzeit widmen zu können.

Enthaltsamkeit im “Sündenbabel”

Akupunktur mal anders

Was dies nun alles mit den Selbstkasteiungen auf den Straßen von Phuket zu tun hat, erschließt sich erst auf den zweiten Blick. Schön vor allem, dass ausgerechnet in Phuket, das nach Pattaya einen guten zweiten Platz in der Rangliste thailändischer “Sündenbabel” einnimmt, das Reinigungsfestival einen so großen Stellenwert hat. Der Grund dürfte schlicht darin liegen, dass rund 35% der Bevölkerung in Phuket Town chinesische Wurzeln hat. Und dass die Girlie Bars mit Pussy Ping-Pong alle ein Stück entfernt in der berühmten Patong-Bucht im Westen der Insel liegen…

Der “Mah Song” im Tempelhof des “Bang Niew Shrine” denkt sich dazu nichts. Vermutlich denkt er gar nicht viel. Er ist ganz still, verdreht nur ein wenig die Augen, während ein Freund die Nadeln und Spieße mit Alkohol desinfiziert und durch seine Wangen führt. “Mah Song” so lautet die thailändische Bezeichnung der Menschen, die sich aus Anlass des Festes selbst so furchtbar peinigen. Übersetzt soviel wie “Hüter der Tradition” oder auch blumig “Pferde der Götter”.

“Pferde der Götter” rennen durch die Stadt

Tanz in Trance

Ihre Betreuer und Helfer sind in der Regel gute Freunde oder Familienmitglieder, denen sie vertrauen, weiß mein Kollege Torn. Er ist schon mehrfach selbst in Prozessionen mitgelaufen, allerdings in der Provinzhauptstadt Trang. “Sie brauchen die Begleitung, weil sie in der Trance nicht wissen, was sie tun”, sagt er. “Manche von den Ereignissen des Tages können sie hinterher nicht mehr erinnern.” Und so wackeln die heftig gepiercten Gottespferdchen halb stöhnend halb irre lachend (oder nur laut atmend?) teils still sabbernd vor Blut und Speichel barfuß durch die Straßen der Stadt. Sie laufen sehr schnell. Verständlich, denke ich. Mit drei Dolchen im Gesicht würde ich auch rennen.

Doch angeblich spüren die “Mah Song” keinen Schmerz, denn sie sind in diesem Zustand von einem der neun Götter aus dem chinesischen Pantheon beseelt und somit immun gegen Leid. Sie können dadurch nicht nur Piercings aller Art leicht wegstecken, sondern auch über heiße Kohlen gehen oder sich selbst mit Peitschen (Rücken und Brust), Morgensternen (Rücken und Brust), Äxten (Zunge ! oder Stirn) und Sägen (Zunge, uaaaaah!) traktieren. Szenen dieser Art gibt es in Phuket auch. Die Bilder hierzu bitte im Internet recherchieren. Ich habe sie leider (oder zum Glück) größtenteils verpasst.

Ein Segen, der vor künftigem Leid bewahrt

Segen mit dem Schwert

Zwischendurch halten die “Mah Song” an den kleinen Altären am Straßenrand. Sie trinken Tee aus einem der neun Tässchen für die neun “Emperor Gods” und segnen die umstehenden Menschen. Da sie in jenen Momenten ein Medium der Götter sind, können Sie einen Segen spenden, der Glück bringt und vor Leid und Schmerzen schützt. Sie segnen mit ihren Händen oder mit Fahnen, die sie über den Kopf der gebeugten Gläubigen streifen – einer Armee in weiß, die sich von dem Spektakel durchaus mehr als eine sensationelle Show erhofft.

Gelegentlich tupfen die Begleiter der “Mah Song” Blut, Schweiß oder Speichel von den Körpern der Gepeinigten. Sie stützen und führen sie. Sie kühlen ihre Füße oder den Kopf mit Wasser oder sie ölen nach: Damit die Spieße nicht mit getrocknetem Blut verkrusten, wird Speiseöl aufgetragen. Und schon rutscht alles wieder wie geschmiert.

Motivwagen, Kamellen und Eiscreme

Motivwagen II: Schildkröte spritzt Wasser

Parallelen zu anderen Umzügen sind sicher rein zufällig. Doch der ein oder andere “Motivwagen” lässt mich durchaus an Rosenmontag denken. Noch mehr die “Kamellen” und die Thai-Variante davon (Eiscreme!!!), die an die Zuschauer verteilt werden. Wie Priesterinnen gekleidete Damen grüßen huldvoll von den Pickup-Trucks herunter, ganz wie die Karnevalsprinzessin. Allerdings mit leicht variierendem Gruß und selbstverständlich anderer Intention.

Etwas mehr Reminiszenzen hat der Umzug vielleicht an die katholischen Osterprozessionen, denen ich in Guatemala dereinst beiwohnen durfte. Dort schleppen hunderte und tausende von Menschen vier Tage lang mächtige, meterlange Holzaltäre und geschnitzte Figuren aus der Passionsgeschichte durch blumenbestreute Straßen. Sicher auch schmerzhaft in Teilen. Allerdings ohne von Gott beseelten Kriegern und keinesfalls martialisch. Und vor allem nicht so lärmend.

Altäre mit Chinakrachern

Die Jungs mit den Böllern

Beim “Nine Emperor Gods Festival” dienen die figuralen Altäre mit Bildnissen der Gottheiten zugleich als Kanonen für Chinakracher. So werden die bösen Geister ganz in chinesischer Tradition mit unglaublichen Böllern verscheucht, die mitten in der Menge losgehen und die gesamte Prozession immer wieder in einen diffusen Qualm tauchen. Die asiatische Variante von Weihrauch vielleicht. Der musikalische Part wird hier von üppigen Trommeln und Percussions-Gruppen übernommen.

Sehr chinesisch auch das Vorprogramm an einem der größeren Altäre in der Hauptprozessionstraße in Phuket: junge Menschen mit Becken und Trommeln eröffnen die Show morgens um 7:30 Uhr. Es folgt ein farbenfroher Löwentanz, ebenfalls von kleiner Rhythmusgruppe untermalt.

Alles nur Nepp?

Werbung im Mund

Nachvollziehbar scheint mir insgesamt der taoistische Glaube, dass eine 9-tägige Fastenphase der Gesundheit und gegebenenfalls dem Seelenfrieden und dem Schicksal als Ganzem dienlich ist. Unsere Hotel-Krankenschwester wies hingegen ganz beherzt auf die Infektionsgefahr für die “Mah Song” hin. In jedem Fall können Touristen, die sich sorgen, dass ihre Schürf- und Stoßwunden in diesem Klima schlecht abheilen, angesichts derlei freiwilliger Selbstkasteiungen relativ optimistisch sein. 😉 Denn die “Mah Song” selbst scheinen recht unversehrt aus den Prozessionen hervorzugehen.

Ein anderer Kollege hält die ganze Show schlicht für kommerzielle Abzocke. Seiner Ansicht nach glauben die meisten “Mah Song” nicht an das, was sie tun. Tatsächlich gibt es sehr viel Werbung nicht nur am Rande der Veranstaltung, sondern auch in der Prozession, wenn nicht sogar als Bestandteil eines Piercings. Äußerst fragwürdig.
Und was sicher auch wahr ist: Die “Mah Song” stehen in einem krassen Wettbewerb zueinander, wer am meisten und am dollsten kann, sagt Torn. Die Bilder zeigen es: Je zahlreicher die Spieße und je abwegiger oder größer der Gegenstans, umso spektakulärer natürlich der Eindruck. Größer, schneller, weiter im spirituellen Kontext… Vielleicht ein Grund, warum erkennbar wenig Frauen an dem Wettbewerb teilnehmen?

Früher Rückzug in die Komfortzone

Der Rauch in der Menge

So oder so ist die Veranstaltung nichts für Zartbesaitete. Nach nur drei Stunden, also etwa gegen 9 Uhr, bin ich fertig mit meinem Tagwerk und ziehe mich zurück in das nette Backpacker Hostel. Schlafen, bissel lesen, essen. Bloß keinen weiteren Input mehr! Kommen wir zu der angenehmen Seite der Veranstaltung: Brilliantes thailändisches Essen mit reichhaltig Gemüse und Tofu! Für kleines Geld direkt an der Straße vor der Tür! Curry mit Bananenblüte! Tempura-Gemüse! Sticky Rice und andere süße Leckerein in tausendfaltiger Variation! Yumyum. Ich schlemme und schlafe traumlos. Und bin froh, am Montagmorgen in sicherer, paradiesischer Umgebung meinen unspektakulären Schreibtisch beehren zu dürfen.

Read and see more:
“Best of piercing”: http://www.simone-viel.de/blog/das-piercing-kabinett-von-phuket-town/

Mein erster Löwentanz: http://www.simone-viel.de/blog/mein-erster-lowentanz/

Hintergrund: http://en.wikipedia.org/wiki/Nine_Emperor_Gods_Festival

Mit Video: http://www.visit-chiang-mai-online.com/the-phuket-vegetarian-festival.html

Schöne Reportage vom Vorjahr: http://www.lonelyplanet.com/thailand/andaman-coast/phuket-town/travel-tips-and-articles/75903

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